Ein Rundgang durch die Albertina Klosterneuburg

Zwischen Erwin Wurm und Elena Koneff, zwischen Styx und Cremeschnitten: ein persönlicher Streifzug durch die Sammlung Essl – mit Respekt, Skepsis und Staunen.

Klosterneuburg, 11.10.2025, Harald R. Preyer

Ich stehe am Eingang der Albertina Klosterneuburg, einem dieser Orte, an denen die Gegenwart so still und selbstverständlich in Erscheinung tritt, dass man fast vergisst, wie jung sie eigentlich ist. Der Raum – großzügig, kühl, klar – empfängt uns mit einer Offenheit, die keine Schwellenangst kennt. Julia geht ein paar Schritte voraus, bleibt dann stehen und lächelt. Draußen stehen Pferde in ihren Koppeln und scheinen amüsiert und zufrieden zu, warten. Worauf? Dahinter gibt der wolkenverhangene Himmel für wenige Minuten den Blick auf die Kuppel von Stift Klosterneuburg frei. Das Licht ist diffus – ideal für Portraits.

Es ist unser erster Besuch hier. Und wir spüren sofort etwas Besonderes – als ob Architektur und Haltung ineinandergreifen. Vielleicht, weil dieser Ort aus einer Entscheidung heraus entstanden ist, die Mut und Verantwortung zugleich bedeutet – aus dem Willen einer Unternehmerfamilie, Kunst nicht zu besitzen, sondern weiterzugeben.


Ich kenne Martin Essl, den Sohn der Sammler Karl-Heinz und Agnes Essl. Ihm verdankt Wien im heurigen Frühjahr (2025) das große Fest „75 Jahre EU“ im Stephansdom. Heute stehe ich in jenem Raum, der sein Elternhaus der Kunst ist – nicht im privaten Sinn, sondern im übertragenen: als Ort des Vertrauens in das Menschliche.

Ich empfinde große Dankbarkeit, dass Menschen wie die Essls oder Hans Peter Haselsteiner Kunst nicht nur als Kapital betrachten, sondern als Vermächtnis. Und auch Dank gegenüber den vielen, die dieses Projekt tragen – den Museumsmanagerinnen, den Politikern, den Steuerzahlern, die es am Ende mitfinanzieren. Es ist leicht, sich über öffentliche Kulturförderung zu empören; aber wer hier durch die Räume geht, spürt, dass es sich lohnt.

Was ist überhaupt Kunst?
Wo beginnt sie? Und wo endet sie?
Diese Fragen begleiten mich seit Jahren – als Betrachter, nicht als Kritiker. Vielleicht ist Kunst überall dort, wo jemand das Sichtbare so ernst nimmt, dass es über sich hinausweist. Manchmal ist sie groß, manchmal klein, manchmal so unauffällig, dass man sie fast übersieht.

Ich bin kein unkritischer Bewunderer der Gegenwartskunst. Zu oft sehe ich darin bloß Geste und Ironie, Konzept statt Berührung. Aber wenn man sich auf die Werke wirklich einlässt, wenn man stehenbleibt und sieht, beginnt etwas zu wirken. Dann wird auch die sperrigste Form zu einer Einladung. Und plötzlich merkt man, dass diese Kunst vielleicht nicht gefallen will – sondern etwas anderes tut: Sie weckt Bewusstsein.

Die Begegnungen mit den ersten Werken

Wir gehen hinauf in den Ausstellungsbereich und betreten den ersten großen Saal. Es ist still, nur das gedämpfte Knirschen der Schritte auf dem Betonboden. Angenehm wenig Menschen sind heute hier. Zweitweise sind wir mit den Künstlern alleine. An der Wand hängen die glänzenden Karosserien von Andy Warhol – Rennwagen, abstrahiert zu Symbolen des Tempos, der Reproduktion, der Sehnsucht nach Geschwindigkeit. Ich bleibe davor stehen und denke: Das ist doch kein Bild eines Autos, sondern eines Zeitalters.
Warhols „Mercedes-Benz Formel Rennwagen W125“ ist in Wahrheit ein Memento mori aus Chrom und Farbe. Geschwindigkeit vergeht, Ruhm vergeht, aber das Bild bleibt. Vielleicht ist das sein Trost: dass auch das Flüchtige einen Ort in der Ewigkeit finden kann.


Andy Warhol, „Mercedes-Benz Formel Rennwagen W125“, 1987 rechts im Hintergrund und andere seiner bekannten Werke. Acryl und Siebdruck auf Leinwand.

Im nächsten Raum wie eine Antwort auf Warhols Kühle, hängt Robert Indianas „Classic Love“. Die vier Buchstaben sind so vertraut, dass man sie fast übersieht. Doch in dieser farbigen Wolle steckt eine Zärtlichkeit, die nichts Ironisches mehr hat. Sie ist handgemacht – eine textile Meditation über das, was bleibt, wenn alle Trends verflogen sind.
Ich bleibe lange davor stehen. Liebe als Muster, nicht als Pose. Vielleicht ist das schon der Unterschied zwischen Kitsch und Kunst: dass das eine gefallen will, während das andere still bleibt und wartet, bis man bereit ist.


Robert Indiana, „Classic Love“, 1995. Wolle.


Ein paar Schritte weiter das Werk von Ida Szigethy. Ein Blick aus einem Rolls-Royce auf eine Wand, dahinter nichts als Dunkel. „Ohne Ausweg“, steht auf dem Schild. Ich spüre, wie sich der Raum verändert: Diese Malerei ist kein Luxusobjekt, sondern eine Beichte. Das glänzende Holzlenkrad wird zum Symbol jener Freiheit, die sich selbst überfordert. Was vor dem Autoradio auf den ersten Blick so aussieht wie ein Stöckel von Yuliya’s braunen Schuhen, ist bei näherer Betrachtung der Daumen der rechten Hand der Pilotin, die gerade einen neuen Sender eingestellt hat.


Ida Szigethy, „Ohne Ausweg“, 1978/79. Öl auf Leinwand.

Ich denke an all die Fahrerinnen und Fahrer, die glauben, sie könnten das Leben steuern – bis sie begreifen, dass der Tunnel kein Irrtum, sondern Teil der Strecke ist. Szigethy malt diesen Moment ohne Pathos, aber mit der Klarheit einer Frau, die sich selbst nichts vormacht.

Taaffe, Diop, Wurm – Über das Ornament, das Absurde und das Menschliche.

Vor einem der größten Werke des Raumes bleibe ich wie gebannt stehen: ein farbig pulsierender Strudel, eine Spirale, die mich förmlich in sich hineinzieht. Es könnte auch der Blick in den Lauf eines teuren Luftdruckgewehres mit einem gezogenen Lauf sein. Philip Taaffes Unit of Direction aus dem Jahr 2003.
Rot, Blau, Gelb – Primärfarben wie Signale – kreisen in präziser Geometrie um ein winziges Zentrum, das zugleich wie ein Auge und wie ein Versprechen wirkt.

Ich lese die Tafel daneben. Taaffe, so erfahre ich, hat sich jahrelang mit Ornamentformen aus verschiedenen Kulturen beschäftigt – von römischen Mosaiken über islamische Arabesken bis zu fernöstlichen Mandalas.
Je länger ich schaue, desto mehr erkenne ich: Diese Spirale ist kein Ornament, sondern eine Bewegung des Geistes. Sie zieht mich hinein in etwas, das weder rational noch dekorativ ist – ein Sog, der mich an das Denken selbst erinnert: immer kreisend, suchend, niemals still.

Es ist faszinierend, wie Taaffe das Meditative der Form mit der Strenge der Mathematik verbindet. Sein Werk hat etwas zutiefst Spirituelles, auch wenn es das nie behauptet.
Vielleicht liegt die Kraft moderner Kunst gerade darin, dass sie sich nicht festlegt. Sie lässt Raum für Zweifel – und genau dort, im Zweifel, beginnt Erkenntnis.

Philip Taaffe, Unit of Direction, 2003. Mischtechnik auf Leinwand, Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Nach der ornamentalen Strenge von Taaffe trete ich in einen Raum, der fast körperlich vibriert.
Alexandre Diop, 1995 in Paris geboren, arbeitet mit allem, was die Welt ihm gibt: Metall, Latex, Leder, Holz, Zeitungen, Nägel, Stoffe. Seine Assemblagen sind keine Collagen im klassischen Sinn – sie sind Verdichtungen von Leben.
Ich lese seine Worte: „Ich muss von der Realität ausgehen, um eine neue zu erschaffen.“
Das ist kein Konzept, sondern eine Lebenshaltung.

Vor seinem großen Werk – eine wuchernde Komposition aus Figuren, Stoffen, Farben, Gewalt und Zärtlichkeit – spüre ich die ganze Unruhe dieser Zeit. Diop lässt nichts unberührt: Rassismus, Kolonialgeschichte, männliche Macht, Spiritualität. Alles ist ineinander verflochten. Es ist, als würde die Leinwand atmen, kämpfen, schwitzen.
Diese Kunst ist nicht schön im klassischen Sinn – aber sie ist wahrhaftig.

Alexandre Diop, „Ohne Titel“, um 2022. Assemblage aus Stoffen, Metall, Papier und Farbe. Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Ein paar Räume weiter: Erwin Wurm.
Fünf Figuren stehen da, elegant und grotesk zugleich. Köpfe gibt es keine, die Körper enden abrupt in eckigen Blöcken. Anzüge, Stiefel, Kleider – makellos.
Ich muss lächeln. Wurm nimmt die modische Oberfläche ernst genug, um sie zu sprengen. Seine Box People sind Karikaturen unserer Gesellschaft: zu perfekt, zu eckig, zu sehr auf Form und Status fixiert.

Ich frage mich, ob das Lachen über diese Figuren befreiend ist – oder beschämend. Wurm zeigt uns, wie sehr wir selbst in unseren Hüllen gefangen sind.
Und doch: Es steckt Zärtlichkeit darin. Seine Figuren sind verletzlich, obwohl sie so starr wirken. Vielleicht liegt darin die eigentliche Pointe seines Werkes – dass hinter dem Absurden das zutiefst Menschliche aufscheint.

Erwin Wurm, „Box People“, um 2015. Textil, Holz, Schuhe, gemischte Materialien. Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Nach Wurm wird es stiller. Kälter. Ich trete in den Raum von Bruno Gironcoli – und plötzlich scheint die Luft aus Metall zu bestehen.
Vor mir liegt eine Figur, silbern, glatt, monumental: Daphne, 2002. Kein klassischer Akt, keine anmutige Verwandlung, sondern ein hybrides Wesen zwischen Mensch und Maschine, Opfer und Schöpfer.

Gironcoli sagte einmal, er wolle den Menschen in all seinen „Abgründen und Zwanghaftigkeiten“ zeigen. Und das tut er.
Diese Gestalt, halb liegend, halb aufgerichtet, mit geschlossenen Augen und einer Antenne aus dem Kopf, wirkt wie eine Kreuzung aus Mythos und Labor.
Ich kann nicht sagen, ob sie schläft oder träumt – oder ob sie längst aufgehört hat, beides zu tun.

In der makellosen Aluminiumhaut steckt etwas zutiefst Unheimliches. Der Körper scheint gefroren in seiner eigenen Idee. Und doch liegt in dieser Kälte eine seltsame Würde.
Vielleicht ist das Gironcolis Beitrag zur großen Frage, was Kunst mit uns macht: Sie zwingt uns, auszuhalten, was wir sonst verdrängen würden.

Bruno Gironcoli, Daphne, 2002. Aluminium, Albertina Klosterneuburg – Sammlung Dagmar und Manfred Chobot.

Dann ein unförmiger, fleischfarbener Körper, irgendwo zwischen Figur und Masse. Die Oberfläche scheint lebendig und zugleich wie verbrannt, durchzogen von schwarzen Adern, an manchen Stellen mit leuchtend rotem Acryl aufgerissen.
Der Titel: Eva Beresin, In Ekstase verweilen (2023).

Es ist eine Skulptur aus 3D-Druck und Acrylfarbe – eine groteske, fast komische Form, die an das Ungeformte im Menschen erinnert.
Ich lese: „Familien­sammlung Haselsteiner“ – und muss lächeln. Selbst in der Ekstase, so scheint es, bleibt in Österreich die Kunst ordentlich dokumentiert.

Doch hinter der Ironie steckt etwas sehr Ernstes. Beresins Figur ist verletzlich, erschöpft, sinnlich, vielleicht erlöst.
Sie ruht in sich – oder in dem, was von ihr geblieben ist.
Diese Arbeit, geschaffen von einer ungarisch-österreichischen Künstlerin, die seit Jahrzehnten mit Körperbildern ringt, scheint mir ein Kommentar zur Gegenwart zu sein:
Wir haben uns digitalisiert, perfektioniert, multipliziert – und doch bleibt das Fleisch, die Form, die Sehnsucht nach Berührung.

Eva Beresin, In Ekstase verweilen, 2023. Acryl auf 3D-Druck, PLA. Albertina Klosterneuburg – Familien­sammlung Haselsteiner.

Ein paar Schritte weiter begegne ich einem anderen Gegenpol zur Materialfülle:
Elena Koneff, geboren 1939 in Moskau, emigrierte 1979 nach Wien. Ihre Arbeiten sind monochrom schwarz, gewebt aus Kordeln, Gummi, Sisal und Harz. Die Serie Black Relief (1978) wirkt wie ein geheimer Dialog zwischen Textil und Kosmos.
Knoten, Schlingen, Fasern – alles scheint sich in einer stillen Gravitation zu bewegen, als würde die Materie selbst über die Schwerkraft des Lebens nachdenken.

Ich empfinde große Ruhe vor diesen Werken.
Nach all der expressiven Lautstärke der Gegenwartskunst ist Koneffs Schwarz fast eine Gebetshaltung.
Ihre Reliefs erinnern an Wunden, die zu Ornamenten geworden sind – an Verbindungen, die reißen und sich wieder schließen.
Vielleicht ist das, was mich so berührt, die Demut dieser Kunst: kein Lärm, kein Anspruch, nur ein leises Atmen im Raum.

Elena Koneff, Schwarzes Relief, 1978. Kordel, Gummi, Sisal, Farbe, Harz. Albertina Klosterneuburg.

Und dann, fast als stilles Echo auf Koneffs schwarze Reliefs, sehe ich Werke von Soli Kiani, geboren 1981 im Iran.
Schwarz, Weiß, Seile – eine Sprache der Gegensätze. Kiani arbeitet mit denselben Materialien, die im Iran bei Hinrichtungen verwendet werden. Sie verwandelt sie in etwas anderes: in Sinnbilder von Befreiung, in poetische Widerstände gegen das Verstummen.

Ihre Arbeiten sind kraftvoll, aber nicht laut. Sie erzählen von weiblicher Identität zwischen Tradition und Moderne, Religion und Säkularität, Schuld und Stolz.
Was mich besonders bewegt: In dieser Schwere liegt etwas zutiefst Versöhnliches.
Vielleicht, weil Kiani nichts zerstören will – sie will verwandeln.

In den Seilen, die sie zu Skulpturen knüpft, scheint sich die Spannung des Lebens selbst zu verdichten. Jeder Knoten ist zugleich Fessel und Verbindung.
Und als ich mich umdrehe, sehe ich Yuliya vor diesen Figuren stehen – in sanftem Rosa, die Hand auf der Tasche, still, aufmerksam.
Ein schöner Moment: zwei Frauen, die sich nicht kennen, und doch etwas Gemeinsames teilen – das stille Wissen, dass Freiheit immer eine innere Bewegung bleibt.

Soli Kiani, Installation aus der Serie „Black Line“, um 2020. Seile, Stoff, Harz. Albertina Klosterneuburg.

Hinter den Seilfiguren von Soli Kiani erkenne ich an der Wand noch einmal ein rundes, fast mandalaartiges Werk von Elena Koneff – ein schwarzes Relief aus Kordeln und Gummi, das wie ein stiller Planet im Hintergrund ruht.
Dieses Werk scheint die Szene zu umarmen: Die Bewegung der Stricke bei Kiani antwortet auf die geordnete Ruhe Koneffs.
Das Schwarz beider Arbeiten ist kein Nichts, sondern ein Speicher von Bedeutung – ein Stoff, der Licht verschluckt, um Tiefe zu erzeugen.

Elena Koneff, „schwarzer Schild“ (mein Titel), Kordel, Gummi, Sisal, Farbe, Harz. Albertina Klosterneuburg

Ausklang

Draußen, gleich zwischen den Ausstellungsräumen, stehen wir vor einer silbernen Abdeckung aus Metall. Darauf in schwarzen Lettern: STYX.
Zuerst halte ich es für eine Wasserleitung, dann für ein Kunstwerk. Doch ein Mitarbeiter erklärt uns: „Das ist die Abdeckung eines Kunstwerks – ‚Welle‘. Die Firma, die sie gefertigt hat, heißt Styx.“
Ein schöner Zufall: Der Name erinnert an den Fluss, der Leben und Tod trennt – und verbindet.
Hier oben, zwischen Glas, Beton und Rasen, fließt er nun als Kunstwerk weiter – still, metallisch, aber voller Bedeutung. Oder vielleicht ist die Welle einfach eine zärtliche Geste an eine Frau, die sich hier Blumen wünschte.

Abdeckung der „Welle“ – gebaut von Firma Styx im Atrium der Albertina Klosterneuburg.

Danach folgen wir dem Duft von Kaffee. Oben, beim Café neben den Ausstellungsräumen, stehen sie in der Vitrine: rosa und gelbe Cremeschnitten, so weich und leicht wie ein ironischer Nachsatz der Kunst.
Wir teilen keine, weil ich Yuliya noch ein spätes gutes Mittagessen zaubern werde. Aber wir lachen fröhlich, weil auch diese süsse Kreation für uns im Moment Kunst ist. Alles, was eben noch schwer war – Gewalt, Schmerz, Verwandlung – löst sich auf in Süße und Staubzucker.

Cremeschnitten im Café der Albertina Klosterneuburg.

Bevor wir gehen, halten wir noch kurz inne. Eine Wand voller Bücher mit der Aufschrift Kunst der Gegenwart – in kräftigem Rot, als wollte sie sagen: Das Heute zählt.
Wir sehen uns an, lächeln. Ja – das tut es.

Harald und Yuliya Preyer vor der Bücherwand „Kunst der Gegenwart“.

Und dann, unten nach dem Ausgang, das letzte Foto.
Das Licht ist weicher geworden, die Luft still.
Yuliya lehnt sich an mich, die Wiesen leuchten hinter uns, als hätten sie alles gehört.
Wir denken an Michaelina Wautier gestern im KHM, an Wurm, Diop, Gironcoli, Beresin, Koneff, Kiani heute hier – und an all das, was sie gemeinsam verbindet:
Mut, Genialität und Menschlichkeit.

Und wir fühlen uns bestätigt:
Die größte Gegenwartskunst bleibt die Liebe.

Harald und Yuliya Preyer vor der Albertina Klosterneuburg im warmen späten Nachmittagslicht des Herbstes.


Kurzbeschreibung

Ein persönlicher Rundgang durch die Ausstellung DE SCULPTURA in der Albertina Klosterneuburg. Harald Preyer begegnet Werken von Wurm, Gironcoli, Koneff und anderen – mit Wertschätzung, kritischer Distanz und offenem Herzen. Eine Einladung, Kunst als Spiegel des Lebens zu sehen.

Zwischen Schlüssel und Buch

Ein Zwiegespräch in Farbe und Licht von Harald R. Preyer


Ein imaginärer Dialog zwischen dem Hl. Petrus und dem Hl. Joachim

Jacob van Oost d. Ä., HI. Petrus, 1640/50

Petrus (leise, aber bestimmt):
Ich trage den Schlüssel, Symbol der Macht, die mir anvertraut wurde.
Christus sprach: „Dir will ich die Schlüssel des Himmelreichs geben.“
Mein Blick ist fest, mein Griff sicher. Ich bin Wächter des Glaubens,
Hüter der Ordnung, Träger der Verantwortung.

Michaelina Wautier, HI. Joachim lesend, Ca. 1658

Joachim (nachdenklich):
Und ich trage das Buch – nicht, um zu lehren, sondern um zu verstehen.
Spät im Leben habe ich noch ein Wunder erfahren,
das mich zum Vater der Jungfrau Maria machte.
Ich lese, um in den Worten Gottes
den Sinn meines Alters zu finden.

Petrus:
Dein Licht ist weich, dein Blick gesenkt – du suchst in der Tiefe.
Ich hingegen stehe im Steinportal, das den Himmel andeutet,
und halte den Schlüssel gegen das Licht,
als wolle ich die Schwelle öffnen.

Joachim:
Dein Licht kommt von außen, meines von innen.
Dein Künstler wollte zeigen, wie die Welt dich ehrt,
meine Malerin wollte zeigen, wie die Seele still wird.
Sie kannte das Herz besser als den Glanz.

Petrus:
Ich bin fest, klar umrissen – geschaffen, um Glauben zu bekennen.
Du bist weich, verhalten, geschaffen, um Glauben zu fühlen.
Wir beide tragen das gleiche Geheimnis:
Gott offenbart sich im Menschen – im Zweifel wie im Vertrauen.

Joachim (lächelnd):
Vielleicht, Bruder, braucht der Himmel beides:
die Hand, die den Schlüssel hält,
und das Herz, das die Schrift versteht.

Petrus:
Dann sei mein Lesen dein Schlüssel,
und dein Schweigen meine Antwort.
So schließt sich der Kreis:
Der Glaube in Tat und Stille –
die Liebe in Macht und Demut.


Kunsthistorischer Kommentar

Jacob van Oost d. Ä. (1603–1671)

Geboren in Brügge, war Van Oost einer der bedeutendsten flämischen Maler des 17. Jahrhunderts. Nach Studien in Italien stand er unter dem Einfluss von Guido Reni und Caravaggio, deren Lichtdramaturgie und klassizistische Klarheit er zu einer eigenen Form des flämischen Illusionismus¹ verband.
Seine Werke zeigen Heilige und Patrizier mit starker plastischer Präsenz, häufig in warmem Kolorit und ruhiger Monumentalität. Der „Hl. Petrus“ aus der Sint-Salvatorskathedraal in Brügge zeigt ihn als Apostel der Autorität – die faltenreiche Gewandung und der metallische Glanz des Schlüssels sind Sinnbilder kirchlicher Würde und Verantwortung.

Michaelina Wautier (ca. 1604–1689)

Eine der bemerkenswertesten Künstlerinnen des flämischen Barock – und zu ihrer Zeit fast vergessen. Sie arbeitete in Brüssel, gemeinsam mit ihrem Bruder Charles, und wurde vom Erzherzog Leopold Wilhelm, dem Kunstmäzen der Habsburger, gefördert.
Ihr „Hl. Joachim lesend“ (Kunsthistorisches Museum Wien) offenbart ihre Stärke: die Verbindung von menschlicher Innerlichkeit² und malerischer Feinheit. Wautier zeigt Joachim, den Vater Marias, in stiller Versenkung – kein Held, sondern ein Hörender. Das warme, gedämpfte Licht legt sich wie eine Decke über ihn; es ist das Licht des Nachdenkens, nicht des Ruhms.


Vergleich und Deutung

Während Van Oost auf äußere Präsenz, Würde und Symbolkraft zielt, sucht Wautier die leise Bewegung der Seele.

  • Van Oost: Barocke Theatralik, klar umrissene Gestalt, starke Lichtkontraste, das Geistige durch das Körperliche vermittelt.
  • Wautier: Introspektive Stille, psychologische Tiefe, das Körperliche als Hülle des Inneren, das Geistige durch das Gefühl erfahrbar.

So wie Petrus und Joachim zwei Pole des Glaubens verkörpern – den handelnden Apostel und den lauschenden Vater –, so verkörpern auch Van Oost und Wautier zwei Wege der Kunst:
den Weg der Darstellung und den Weg der Erkenntnis.

Beide aber münden – wie die Figuren selbst – in einer gemeinsamen Wahrheit:

„Der Himmel braucht beides – die Hand, die öffnet, und das Herz, das versteht.“


¹ Illusionismus: Malweise, die durch geschickte Lichtführung und Raumdarstellung den Eindruck von Dreidimensionalität und stofflicher Realität erzeugt.
² Innerlichkeit: künstlerische Betonung des seelischen Ausdrucks über äußere Handlung oder Repräsentation.


Warum Michaelina Wautier uns heute mehr zu sagen hat als Rubens

Ein Essay über eine fast vergessene Meisterin des flämischen Barock
von Harald R. Preyer


Manchmal steht man vor einem Gemälde und spürt, dass es spricht – aber anders, leiser, tiefer als die lauten Bilder ringsum.
So erging es mir in der Ausstellung „Michaelina Wautier“ im Kunsthistorischen Museum Wien.
Yuliya und ich standen vor dem Heiligen Joachim, einem alten Mann, der in sein Buch vertieft ist. Kein Prunk, kein Pathos, kein Glanz. Nur Licht, das aus der Stille kommt.

Und plötzlich fiel mir auf: kein Name.
Keine Signatur, kein stolzes „fecit“.
Nichts, was Besitz oder Ruhm beansprucht.
Nur ein Bild, das einfach da ist – und einen anschaut, als wüsste es, was es weiß.


Die Unsichtbare unter den Sichtbaren

Michaelina Wautier, geboren um 1604 in Mons, gestorben 1689 in Brüssel, war alles, was sie im 17. Jahrhundert nicht sein durfte: eine Frau, die Historien malt, männliche Akte studiert, sich in Theologie und Mythologie auskennt – und sich traut, den inneren Menschen zu zeigen, nicht den äußeren Helden.

Während ihre männlichen Kollegen um Rubens, Jordaens und van Dyck mit großen Werkstätten und noch größeren Gesten die Welt eroberten, blieb sie eine Einzelne in einem System, das Frauen bestenfalls als Dilettantinnen duldete.
Sie signierte selten, arbeitete ohne Schule, ohne Schüler, ohne Protektion.

Das allein genügte, um aus der Geschichte zu verschwinden.
Denn der Ruhm des Barock war ein Netz aus Namen, Märkten und Männern.


Ein Name, den man übermalte

Von den heute bekannten rund zwei Dutzend Gemälden Wautiers sind nur wenige signiert.
Die bekannteste Inschrift findet sich auf dem monumentalen Triumph des Bacchus (1650, Kunsthistorisches Museum Wien):

Michaelina Wautier, inv. et fecit 1650.
(Michaelina Wautier erfand und malte dieses Werk.)

Diese Formel ist ein Statement.
Sie beansprucht nicht nur das Handwerk, sondern auch die Erfindung – das geistige Eigentum.
Für eine Frau des 17. Jahrhunderts war das revolutionär.
Doch genau dieses Selbstbewusstsein war ihr Hindernis: Es passte nicht in eine Zeit, die Frauen in das Private, das Zarte, das Dekorative verbannte.

Viele ihrer Werke wurden später Männern zugeschrieben – ihrem Bruder Charles Wautier, dem flämischen Maler Jacob van Oost oder anderen Zeitgenossen.
Erst die belgische Kunsthistorikerin Katlijne Van der Stighelen wies im 21. Jahrhundert nach, dass Michaelina keine Fußnote, sondern eine Meisterin war.


Das Licht von innen

Wer heute ihre Gemälde betrachtet, erkennt sofort, was sie von ihren männlichen Kollegen unterscheidet:
Van Oost lässt das Licht von außen kommen – von einer göttlichen Quelle, die den Körper modelliert.
Wautier lässt es von innen leuchten.

Ihr „Hl. Joachim lesend“ ist nicht spektakulär, sondern menschlich.
Der Alte liest nicht, um zu lehren, sondern um zu verstehen.
Er hat nichts mehr zu beweisen.
Das Licht, das auf seine Stirn fällt, ist kein theatralischer Schein, sondern ein stilles Wissen.

Hier malt keine Repräsentation, sondern Empathie.
Keine Pose, sondern Präsenz.
Und man spürt: Diese Malerin kannte das Herz besser als den Glanz.


Warum sie verschwand – und wiederkehrt

Dass Michaelina Wautier in Vergessenheit geriet, war kein Zufall, sondern System.
Die Kunstgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts schrieb Helden, nicht Menschen.
Sie suchte Namen, Schulen, Epochen – nicht Stille, Demut oder seelische Wahrheit.
Eine Frau, die unabhängig arbeitete, ohne Nachfolger, ohne Nachlass, passte nicht in dieses Schema.

Doch genau das macht sie heute so modern.
In einer Zeit, in der wir nach Authentizität hungern, nach Bildern, die nicht inszenieren, sondern verstehen wollen, spricht ihre Kunst wieder direkt zu uns.

Sie malte keine Macht, sondern Gnade.
Keinen Triumph, sondern Wahrhaftigkeit.
Sie hat nicht versucht, sich zu beweisen – sie hat versucht, zu sehen.


Mehr als Rubens

Rubens war der Maler des Glanzes.
Wautier ist die Malerin des Gewissens.
Er feiert den Körper, sie erkennt die Seele.
Er malt die Welt, wie sie sich zeigt; sie malt, wie sie fühlt.

Vielleicht ist das der Grund, warum sie uns heute näher ist als ihre berühmten Kollegen:
weil sie nicht mit uns spricht, sondern uns zuhört.
Ihre Bilder sind keine Predigten, sondern Antworten auf Fragen, die wir noch gar nicht zu stellen wussten.

Und vielleicht liegt genau darin ihre Größe:
Sie hat ihre Werke nicht signiert,
weil sie wusste, dass das, was zählt,
nicht der Name ist,
sondern das Licht, das bleibt.

Susanna – Würde im Licht

Die Geschichte beginnt in einem Garten.
Susanna, eine verheiratete, fromme Frau, geht wie jeden Tag in den Garten ihres Hauses, um zu baden. Zwei ältere Männer – angesehene Richter im Volk – beobachten sie heimlich. Sie begehren sie und nutzen ihre Macht, um ihr eine Falle zu stellen: Entweder sie gibt sich ihnen hin, oder sie wird öffentlich der Untreue bezichtigt.

Susanna weigert sich. Ohne Zorn, ohne Aufsehen. Einfach klar. Sie sagt Nein – nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung. Die Männer halten Wort: Sie lügen. Und das Volk glaubt ihnen. Susanna wird verurteilt.

Da erhebt sich plötzlich ein junger Mann aus der Menge – Daniel. Er spürt, dass etwas nicht stimmt. In ruhigem Ton verlangt er, die beiden Alten getrennt voneinander zu befragen. Ihre Aussagen widersprechen sich. Die Lüge fliegt auf. Die Wahrheit findet Gehör – weil einer hinhört.

Am Ende heißt es schlicht: „Gott erhörte ihr Schreien.“ – Und Daniel wurde zum Retter einer Unschuldigen, allein durch sein feines Gespür und den Mut, der Stimme des Gewissens zu folgen.

Bibel, Altes Testament, Buch Daniel 13,1 – 14,42


Zwei große Maler – zwei Lesarten einer Wahrheit

Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese, zwei Meister der venezianischen Spätrenaissance, haben diese Szene auf je eigene Weise gestaltet – beide Werke hängen heute im Kunsthistorischen Museum Wien.


Jacopo Tintoretto, „Susanna im Bade“, um 1564. Öl auf Leinwand, 96 × 124 cm. Kunsthistorisches Museum Wien. Gemäldegalerie Saal V
Susanna im Moment der inneren Sammlung. Nackt, aber nicht entblößt. Wachsam und klar, umgeben von dunklem Laub – die Bedrohung schleicht, aber sie bleibt aufrecht.


Paolo Veronese, „Susanna und die beiden Alten“, um 1580–1585. Öl auf Leinwand, 140 × 194 cm. Kunsthistorisches Museum Wien.
Susanna im Licht, umgeben von Farben, fast leuchtend. Die beiden Männer treten nahe, doch sie weicht nicht. Sie bleibt bei sich – in einer Würde, die kein Urteil trüben kann.


Was bleibt?

Diese Geschichte, diese Bilder, diese Frau – sie erzählen von mehr als einem biblischen Vorfall.
Sie erzählen davon, was es heißt, in der Wahrheit zu bleiben, auch wenn sie niemand hören will.
Davon, wie gefährlich Macht sein kann – und wie heilend Aufmerksamkeit.
Und davon, dass das Vertrauen in das Richtige manchmal das Einzige ist, was wir haben – und das Stärkste, was wir brauchen.

Susanna hat sich selbst nicht verraten. Daniel hat ihr zugehört.
Und die Kunst bewahrt diesen Moment – nicht als frommes Märchen, sondern als zeitlose Erinnerung an die Kraft der Würde.

Auferweckung – Auferstehung

Fastentuch von Michael Hedwig in der Pfarrkirche St. Andrä in Lienz

Fastenzeit 2025

Fastentuch von Michael Hedwig in der Pfarrkirche St. Andrä (2025 ausgestellt)
Quelle: https://www.hedwig.at/fastentuch/

Seit dem Mittelalter gibt es den Brauch, in der Fastenzeit den Hochaltar, einzelne Bilder oder die Kreuze zu verhüllen. Die großen Fastentücher im Altarraum erinnern an einen Vorhang, der zum Ausdruck der Trauer über den Tod Jesu den Hochaltar verhüllt.

Manchmal werden schlichte einfärbige Tücher – meist in der Farbe Violett – verwendet, ab und zu – z.B. mehrfach in Kärnten – zeigen die Fastentücher ein reiches biblisches Bildprogramm von der Erschaffung der Welt bis zu Tod und Auferstehung Jesu. Das Schloss Bruck besitzt das wertvolle Virgener Fastentuch (5×8 m) aus dem Jahr 1598.

In der Fastenzeit 2025 wird zum zweiten Mal nach 2024  im Altarraum unserer Pfarrkirche St. Andrä ein besonderes Fastentuch hängen und absichtlich den Blick auf den Hochaltar verdecken. Dieses wurde vom Lienzer Künstlers Michael Hedwig im Jahr 2010 als Auftragswerk der Dompfarre Innsbruck und der Initiative Kunstraum Kirche geschaffen. Es hat eine Größe von 11x7m und ist mit Acryl auf drei Bahnen ungrundierter Baumwolle gemalt. In der Fastenzeit 2010 und 2011 hing dieses Fastentuch im Dom zu Innsbruck und in den Jahren 2020-2023 in der Michaelerkirche Wien.

Auferweckung der Gebeine und Verklärung Jesu

Die Darstellung am Fastentuch von Michael Hedwig verbindet zwei biblische Motive: die Vision des Propheten Ezechiel, der schildert, wie tote Gebeine aus der Erde herauskommen und vom Geist Gottes zu neuem Leben erweckt werden (Ezechiel Kapitel 37), und die Verklärung Jesu, die alljährlich in der Kirche am 2. Fastensonntag als Evangelium verkündet wird. Eine Darstellung der Vision Ezechiels befindet sich im Eingangsraum der Pfarrkirche St. Andrä. Mit dem gegenüberliegenden Bild der Auferweckung des Lazarus verkündet diese bereits im Eingangsbereich der Kirche die Botschaft von der Auferstehung.

Das Fastentuch von Michael Hedwig ist auf vier Etagen gegliedert: Unten steigen aus den Gräbern die Gebeine der Toten heraus, sie werden Menschen mit Fleisch und vor allem mit Herz. Der verklärte Christus auf der obersten Etage zieht sie gleichsam nach oben. Sein verherrlichter Leib und die Fähigkeit, Menschen nach oben zu ziehen, erinnert bereits an die Auferstehung. Die geschichtlichen Katastrophen der Sklaverei des Volkes Israel in Ägypten, dessen Exils in Babylon und das Kreuz vom Karfreitag werden dadurch nicht verhindert, aber stehen unter dem Vorzeichen der Hoffnung auf Erlösung. Der blaue Farbton am Fastentuch ganz oben und das Weiß des verklärten Jesus drücken die Dimension des Ewigen aus, der braune Farbton am unteren Ende des Fastentuches erinnert an das Erdhafte unseres Lebens.

Die Lichtfülle, die an schönen Tagen durch den Altarraum von St. Andrä flutet, lässt die Details noch mehr in ein verklärtes Licht treten und verstärkt diesen Effekt umso mehr.

Michael Hedwig

Das Fastentuch von Michael wirkt wie eine ruhige feierliche Komposition, in der die Figuren wie auf einer transzendenten Bühne erscheinen. Das Leitthema „Körper“ begleitet das Wirken von Michael Hedwig schon seit Jahrzehnten. 

Michael Hedwig wurde 1957 in Lienz in der Friedensiedlung geboren. 1974–1980 absolvierte er sein Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Von 1985 bis 2022 war er Lehrender an der Akademie der bildenden Künste Wien, als Assistenzprofessor leitete er seit 1998 die Tiefdruckwerkstatt am Institut für bildende Kunst. Sein Atelier betreibt er im Bezirk Mariahilf in Wien. Sein vielfältiges Schaffen belegen zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland sowie Arbeiten im öffentlichen Raum, u. a. die Gestaltung der U3-Station Stubentor im 1. Bezirk Wien.

Predigt von Dekan Dr. Franz Troyer und Schriftstelle auf der Homepage der Pfarre Lienz St. Andrä.

Deckenfresko in der Altmannikrypta von Stift Göttweig

Martin Johann Schmidt: Die Auferweckungsvision des Propheten Ezechiel, Deckenfresko in der Krypta der Stiftskirche Göttweig, um 1770, Ez 37,1–6

Dieser Artikel ist noch nicht fertig.

Ich möchte auch noch die Auferstehung des Lazarus einarbeiten.

Gedanken dazu:
https://www.erzdioezese-wien.at/dl/qnrlJKJnKOmOJqx4KJK/SON_5_FaSo_2020_pdf

Das Piano (1993) – Ein Film über Leben und Tod, Liebe und Neubeginn

Jane Campions Das Piano ist ein preisgekröntes Filmdrama, das 1994 drei Oscars gewann, darunter für das beste Originaldrehbuch. Die neuseeländische Regisseurin erzählt eine kraftvolle Geschichte über Ausdruck, Freiheit und die Wahl zwischen Leben und Tod.

Die stumme Ada McGrath kommuniziert allein über ihr Piano – es ist ihre Stimme, ihre Seele. In einer von Zwängen geprägten Welt wird Musik zu ihrer einzigen Freiheit. Die rohe Natur Neuseelands bildet dabei den Hintergrund für einen tiefen emotionalen Konflikt zwischen Unterdrückung und Befreiung. Prostitution und Liebe stehen sich in einer komplexen Beziehung gegenüber, in der Macht, Begehren und Verletzlichkeit aufeinandertreffen.

Phasenweise ist der Film schwer auszuhalten – die Charaktere waten buchstäblich und metaphorisch durch den Schlamm ihrer Schicksale. Die gezeigte Brutalität, sowohl physisch als auch emotional, macht Das Piano zu keiner leichten Unterhaltung, sondern zu einem künstlerisch hochwertigen Drama. Jeder Moment ist voller Intensität, jede Szene durchdrungen von Symbolik und tiefer Bedeutung.

Die Bilder sind von atemberaubender Kraft, der Rhythmus des Films ist langsam und eindringlich. Das Piano fordert heraus, schockiert und berührt zugleich. Am Höhepunkt der Geschichte verdichtet sich alles in einer existenziellen Entscheidung – einer Wahl zwischen Untergang und Hoffnung. Am Ende siegen Liebe und Freiheit, was dem Film eine erlösende Kraft verleiht.

Mit seiner bildgewaltigen Erzählweise ist Das Piano ein Film, der sich besonders für die Fastenzeit eignet. Er konfrontiert mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz und zeigt, dass trotz aller Dunkelheit das Leben und die Liebe triumphieren können.

El Greco und die Hl. Martina

Am 30. Jänner feiert die römisch katholische Kirche den Gedenktag der Hl. Martina. In El Grecos Gemälde „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ ist sie eine Nebendarstellerin.  

Diese frühchristliche Märtyrerin ist ein Symbol unerschütterlichen Glaubens und strahlender Sanftmut, die selbst das Wilde zähmen konnte. El Greco hat in seinem Gemälde „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ diese Aspekte in einer Weise verewigt, die Kunst und Spiritualität meisterhaft vereint. Das Bild ist in hoher Auflösung (38 MB) hier gespeichert und kann heruntergeladen und gezoomt werden, um die Details genau zu betrachten.

Maria mit Kind und die hll. Martina und Agnes (zwischen 1597 und 1599)
Gemälde von El Greco (* um 1541 in Candia auf Kreta; † 7. April 1614 in Toledo); eigentlich Domínikos Theotokópoulos
National Gallery of Art, Washington, D.C.

Martina und die gezähmte Wildheit des Glaubens

Die Legende von Martina erzählt, wie sie während der Christenverfolgung unter Kaiser Alexander Severus in eine Arena geworfen wurde, um von wilden Tieren zerfleischt zu werden. Doch die Löwen, die eigentlich ihren Tod besiegeln sollten, legten sich sanft zu ihren Füßen. Die Märtyrerin beeindruckte sie durch ihre furchtlose Glaubensüberzeugung und die innere Ruhe, die aus ihrer tiefen Verbindung zu Gott entsprang. Diese außergewöhnliche Szene ist nicht nur ein Motiv von Stärke, sondern auch von friedlicher Überwindung des Bedrohlichen.

El Greco greift dieses Attribut auf und platziert den Löwen zu Martinas Füßen, als wäre er ein treuer Begleiter. Der Löwe blickt gelassen, fast andächtig, und lenkt den Fokus auf die spirituelle Kraft der Heiligen. Es ist weniger eine Zurschaustellung von Macht als ein Zeugnis für die transformierende Kraft des Glaubens, die selbst das Wilde in ein Symbol der Harmonie verwandeln kann.

El Grecos technische Brillanz: Der Ausdruck des Glaubens

El Grecos Gemälde überzeugt nicht nur durch seine Komposition, sondern auch durch seine subtile Technik. In der hohen Auflösung des Bildes lassen sich die Details studieren, die den besonderen Reiz seiner Kunst ausmachen. Seine lockeren, fast impressionistisch wirkenden Pinselstriche geben den Stoffen und Figuren eine Lebendigkeit, die aus der Distanz eine transzendente Wirkung entfaltet. Besonders Martinas gelber Umhang, der fast wie fließendes Gold erscheint, strahlt eine Wärme aus, die ihre innere Stärke unterstreicht.

Die Balance zwischen kühlen und warmen Farben in der Komposition spiegelt das Thema des Gemäldes wider: die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit. Martinas Löwe, mit feinen Strichen modelliert, fügt sich dabei als integraler Bestandteil der Geschichte ein. El Greco inszeniert ihn nicht als gefährliches Tier, sondern als Verkörperung der gezähmten Wildheit – ein stiller Beweis für die Kraft der Sanftmut.

Details und Symbolik in El Grecos Werk

Die ikonografische Stärke des Gemäldes zeigt sich auch in den übrigen Figuren und Details. Maria, zentral platziert, repräsentiert die Verbindung zu Christus, während Agnes mit ihrem Lamm die Reinheit und das Opfer symbolisiert. Martinas Rolle als Märtyrerin wird durch ihre gelassene Haltung und den ruhigen Blick unterstrichen. Der Löwe an ihrer Seite ist nicht nur ein Attribut, sondern auch ein Hinweis darauf, wie Glaube und Liebe das Potenzial haben, Angst und Gewalt zu überwinden.

Die Engel im oberen Teil des Bildes verstärken diese Botschaft. Ihre sanften Gesten und aufrichtigen Blicke schaffen eine Atmosphäre des Friedens, die den Betrachter dazu einlädt, über die transformative Kraft des Glaubens nachzudenken.

El Greco: Ein Meister zwischen den Welten

El Greco (1541–1614) war ein Künstler, der über die Grenzen seiner Zeit hinaus wirkte. Seine Werke vereinen Einflüsse der venezianischen Schule mit der expressiven Kraft des Manierismus und der spirituellen Tiefe byzantinischer Ikonografie. In „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ zeigt er seine Fähigkeit, das Göttliche und das Menschliche in einer harmonischen Komposition zu verbinden.

Dieses Gemälde ist mehr als eine Darstellung von Heiligen. Es ist eine Reflexion über die Macht des Glaubens und die Möglichkeit, durch innere Überzeugung und Sanftmut sogar das Wilde zu zähmen. Martina erinnert uns daran, dass wahre Stärke nicht in Gewalt liegt, sondern in der Fähigkeit, Liebe und Frieden auszustrahlen.

Hermann’s Vernissage

22.11.2024 Heute habe ich Yuliya und Harry zu einer Vernissage mitgenommen. Hermanns Hund hat uns eingeladen. Der ist schon erwachsen so wie ich bald und er wohnt im Wald in einem tollen Haus und sein Herrchen macht was ganz Tolles. Habe ich vorher noch nie gesehen. Der macht Bilder aus Gold! Die haben dann auch ohne Licht geleuchtet. Ganz gespenstisch war das.

Da hat dann ein ganz lieber Mann gesprochen. Zu dem haben alle Pater gesagt, aber der hat gar nicht so ein langes Kleid an wie die anderen Mönche, die ich kennengelernt habe. Jedenfalls hat er ganz toll gesprochen. Ich habe nicht gleich alles verstanden. Aber dann habe ich den Kopf schief gelegt. Er hat dann zu mir gesagt: „Teddy Dir geht es gut. Du wirst mit ganz viel Liebe erzogen. Alles Gute!“ Habe ich lieb gefunden. Werde ich meinem Freund, dem Künstler Hund erzählen.

Und ich wünsche dann seinem Herrchen, dass viele rote Punkte auf die Goldbilder geklebt werden. Da habe ich zugeschaut. Das macht sie einfach farbenfroh, finde ich. Und ich habe auch gemerkt, dass der Mann, der auch auf der Bühne gestanden ist und der dann das Buffet eröffnet hat, dass der sich auch immer gefreut hat, wenn er einen roten Punkt drauf geklebt hat. Der hat also auch meinen Geschmack.

https://www.hermannstaudinger.at/de

Sterblich sein – ein Abend rund um den Stephansdom

21.8.2024 Gemeinsam mit Antonia Heigl vom Dom Museum Wien organisierete ich für eine kleine Gruppe von Freunden und Bekannten eine dialogorientierte Führung durch die Ausstellung „Sterblich sein“.

Vielen herzlichen Dank an Barbara Steininger-Wetzlmair, die uns gekonnt, geistreich inspirierend geführt hat. Chapeau!

Anschließend konnten wir über den Dächern von Wien mit Blick auf den Stephansdom unsere Gedanken in einem kultivierten Kreisgespräch austauschen. Alle Teilnehmer:innen kamen zu Wort und haben offenherzig erzählt, was sie am meisten beeindruckt hat und welche Resonanz die Objekte verursacht haben.

Dabei hat uns meine geschätzte Kollegin Elisa Eichinger auch erzählt, was Sie als Filialleiterin bei Bestattung Himmelblau in ihren Gesprächen mit Hinterbliebenen und auch mit Menschen, die im Hinblick auf ihren eigenen letzten Weg vorsorgen wollen, erlebt. 

In dieser Broschüre findest Du im zweiten Teil die Checkliste mit allen Themen, die bei der Planung einer Bestattung zu klären sind. Die Beraterinnen in den Himmelblau Filialen stehen Dir gerne für ein kostenloses und unverbindliches Beratungsgespräch zur Verfügung. Elisa Eichinger, wien@bestattung-himmelblau.at, +43 1 361500011 hast Du ja schon kennengelernt.

Sterblich sein Abend am Stephansplatz

Die Ausstellung befasste sich mit dem unausweichlichen Bestandteil jeder Existenz: „Sterblich sein“ spürt mittels Gegenüberstellung von Kunstwerken, die einen kulturhistorischen Bogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart spannen, der tiefen Bedeutung von Tod nicht nur im individuellen, sondern auch im kollektiven und gesellschaftspolitischen Kontext nach. Intime, persönliche Ansätze wurden genauso beleuchtet wie die öffentliche, politische Rolle des Sterbens und die Auseinandersetzung damit.

In unserer Gruppe wurde als besonders beeindruckend mehrmals die Pieta von Sam Jinks erwähnt. Deshalb hier die Werkbeschreibung aus dem Katalog des Dom Museum Wien.

Still Life (Pieta), 2007

Sam Jinks (geboren 1973)
Silikon, Farbpigmente, Menschenhaar
Australian Private Collection

Die Pietà, das Bildnis der trauernden Muttergottes mit dem toten Sohn auf dem Schoß, ist eines der berührendsten Motive der christlichen Kunst. Der australische Künstler Sam Jinks lehnt sich mit Titel und Bildaufbau seiner hyperrealistischen Skulptur an Michelangelos um das Jahr 1500 entstandene Marmorskulptur an: Diese zeigt zwei idealschöne, junge Körper, deren Schmerz und Trauer völligem Frieden gewichen sind – der, wie der zum Himmel erhobene linke Zeigefinger der Madonna andeutet, auf absolutem Gottvertrauen basiert. In Sam Jinks’ Arbeit ist die haltende Figur allerdings ein Mann mittleren Alters, der einen alten, möglicherweise toten Menschen im Arm wiegt. Anders als im kunsthistorischen Vorbild stellen die beiden keine Verbindung nach außen her, ihre Augen sind geschlossen. Ein Gefühl schmerzhafter Innerlichkeit durchdringt die gesamte Skulptur.

Der Rückgriff auf christliche Motive findet sich in Sam Jinks’ Werk
ebenso wie eine leichte Verfremdung der Figuren. Die Lebensnähe von Form, Materialität und Farbe kontrastiert dabei mit verscho­benen  Größenverhältnissen. Anders als das historische Original zeigt Jinks’ Figurengruppe allerdings eine Umkehr der Personen: Hier scheint das erwachsene Kind einen sterbenden oder toten Elternteil zu stützen. Gleichzeitig sind beide Bildnisse als Selbstporträts des Künstlers in verschiedenen Lebensaltern lesbar. Damit erweitert Sam Jinks das Bild der Trauer über einen geliebten Verstorbenen zu einer intimen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit.

Letztes Abendmahl und Fußwaschung

Wie sehr sich das Johannesevangelium von den Synoptikern abhebt, zeigt sich insbesondere an der Fußwaschung Joh 13, 1–20. Während diese das Letzte Abendmahl als Pessachfeier mit Einsetzung der Eucharistie als Feier des Neuen Bundes inszenieren, verortet jenes deren Ursprung im Zusammenhang der Speisung der Fünftausend in Joh 6. Dort heißt es zwar, das Pessach sei nahe gewesen (V. 4), doch die direkte Verbindung zur Passion ist dort nicht gegeben. Was dies für die Eucharistie in johanneischer Sicht bedeutet, zeigt Ludger Schenke im entsprechenden Kapitel seiner Rekonstruktion der Entstehung des Johannesevangeliums.

Gehen wir der Bedeutung nach, die bei Johannes die Fußwaschung als sakramentale Zeichenhandlung gewinnt. Sie greift erkennbar Jesu Reaktion auf den Rangstreit der Jünger auf: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9, 35) Indem der johanneische Jesus dies durch sein Handeln beim Abschiedsmahl geradezu ins Absurde steigert, deutet er seine Passion voraus und erhebt das Dienen zu seinem Vermächtnis. Gregor der Große (590–604) hat das verstanden, als er sich Diener der Diener Gottes (servus servorum Dei) nannte – die Formel, mit der Päpste bis heute offizielle Dokumente unterschreiben. Im Johannesevangelium gipfelt darin die Dynamik des Prologs, die zentral vom Abstieg Gottes des Logos geprägt ist; über die mehrfache Andeutung der paradox gemeinten Erhöhung (3, 14; 8, 28; 12, 32) und die Fußwaschung führt eine gerade Linie bis zum lapidaren „Vollbracht“ des sterbenden Logos am Kreuz (19, 30). So eindrücklich das Zeichen, so sehr geht es um die Haltung; um das Tun des Unwahrscheinlichen, Unerwarteten, das eingefahrene Gewohnheiten durchbricht und gerade so göttliches Licht hereinlässt.

Quelle: Magnificat – das Stundenbuch vom August 2024, Editorial von Johannes Bernhard Uphus.

Letztes Abendmahl und Fußwaschung, Perikopenbuch Heinrichs II., Reichenau, Anfang 11. Jahrhundert, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 4452, fol. 105v, © Bayerische Staatsbibliothek München

Gemeinschaft mit dem Herrn
Im Perikopenbuch Heinrichs II. ist der Evangelienabschnitt Joh 13, 1–15 mit dem Festtitel „IN CAENA DNI“ (beim Mahl des Herrn) überschrieben und wird mit einer großen S-Initiale eingeleitet, da der Text im Lateinischen mit „Sciens Jesus, quia venit eius hora“ beginnt (Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, Joh 13, 1). Im aufgeschlagenen Buch links von diesem Beginn des Gründonnerstagsevangeliums zeigt der Codex eine ganzseitige Miniatur mit der Darstellung des Abendmahles (oben) und der Fußwaschung (unten, unser Titelbild).
Mahl und Fußwaschung
Das Johannesevangelium unterscheidet sich von den anderen drei (synoptischen) Evangelien bei der Schilderung der Geschehnisse am Gründonnerstag unter anderem dadurch, dass das Mahl Jesu mit seinen Jüngern zwar vorausgesetzt (vgl. Joh 13, 2.4), aber nicht ausführlich geschildert wird. In der liturgischen Feier am Gründonnerstag wird deshalb vor dem Evangelium 1 Kor 11, 23–26 mit der paulinischen Überlieferung des Abendmahls gelesen. Johannes legt viel größeren Wert auf die Fußwaschung und auf die sogenannten Abschiedsreden Jesu. Die synoptischen Evangelien hingegen erwähnen die Fußwaschung mit keinem Wort.
Der Maler unserer Miniatur scheint die Abfolge der Ereignisse aber umgedreht zu haben: Eine Reinigung der Füße fand im Vorderen Orient natürlich vor dem Mahl statt, nicht danach, jedoch schildert Johannes etwas uneindeutig, dass Jesus vom Mahl aufstand, um den Jüngern die Füße zu waschen (vgl. Joh 13, 4), auch wenn das eigentliche Mahl (ohne Einsetzungsworte) auch bei Johannes danach anklingt (vgl. Joh 13, 26).
Anteil haben am Herrn
Mahl und Fußwaschung haben eine zentrale inhaltliche Verbindung: Es geht um die Anteilhabe am Herrn, um die Gemeinschaft mit ihm. Auf der einen Seite durch die Gemeinschaft mit ihm im Mahl, durch die Teilhabe an Jesu Selbsthingabe unter den Zeichen von Brot und Wein als Vorausdeutung seines Kreuzestodes als Erlösung für die Vielen (vgl. Mk 14, 24). Auf der anderen Seite durch den Dienst der Fußwaschung mit der Implikation, dass wir Gemeinschaft mit dem Herrn haben können, wenn wir anderen dienen.
Die beiden auf der Innenkarte dargestellten Szenen zeigen einige Besonderheiten:

Jesus sitzt etwas ungemütlich, auch wenn sein thronartiger Sitz mit einem Polster und einem gesäumten Tuch bedeckt ist. Hier spürt man noch eine antike Bildvorlage, welche die Mahlgemeinschaft um den Tisch liegend zeigte, mit dem Hausherrn links am Kopf der Tafel. Er hält eine Buchrolle in der Hand, schaut seine Jünger an und spricht zu ihnen: „Einer von euch wird mich ausliefern“ (Joh 13, 23). Alle Augen sind voller Spannung auf ihn gerichtet. Auf dem Tisch sehen wir Brote, zwei Kelche, eine Schale mit einem Fisch, zwei Messer, einen Krug, aber der Kelch zwischen Jesus und Judas bildet mit der Hand des Judas darüber ziemlich genau die Mitte des oberen Teiles der Miniatur. Denn die Hand des Judas ist es, die den von Jesus eingetauchten Bissen Brot nimmt und so den Verräter verrät.Oben findet das Mahl in einer Säulenhalle mit einer grünen Stoffbahn als Dekoration statt (beide Szenen sind von Goldgrund hinterfangen). Der ovale Tisch mit langem, weißem Tischtuch bildet die Mitte, um die sich die Apostel gruppieren, jedoch in sehr verschiedener Weise: Acht Apostel, an der Spitze Petrus ganz links, sitzen auf einer Bank, die rechts herausschaut, hinter dem Tisch. Ein Apostel (es ist Judas) sitzt auf einem Faldistor (Klappstuhl) vollkommen isoliert vor dem Tisch; er wirkt sehr klein und muss hoch zu Jesus hinaufschauen. Auf ihn werden wir später noch eingehen. Zwei kommen von links und bringen einen Kelch und einen Krug zum Tisch.
Jesus sitzt etwas ungemütlich, auch wenn sein thronartiger Sitz mit einem Polster und einem gesäumten Tuch bedeckt ist. Hier spürt man noch eine antike Bildvorlage, welche die Mahlgemeinschaft um den Tisch liegend zeigte, mit dem Hausherrn links am Kopf der Tafel. Er hält eine Buchrolle in der Hand, schaut seine Jünger an und spricht zu ihnen: „Einer von euch wird mich ausliefern“ (Joh 13, 23). Alle Augen sind voller Spannung auf ihn gerichtet. Auf dem Tisch sehen wir Brote, zwei Kelche, eine Schale mit einem Fisch, zwei Messer, einen Krug, aber der Kelch zwischen Jesus und Judas bildet mit der Hand des Judas darüber ziemlich genau die Mitte des oberen Teiles der Miniatur. Denn die Hand des Judas ist es, die den von Jesus eingetauchten Bissen Brot nimmt und so den Verräter verrät.

Auch die Fußwaschung findet in einem Innenraum statt, der durch zwei Säulen gekennzeichnet ist. Ein roter Vorhang (als liturgische Farbe ist für den Gründonnerstag rot damals am meisten bezeugt) ist an den Säulen hochgebunden. Jesus steht frei vor dem Goldgrund, mit dem im Text genannten umgebundenen Leinentuch (vgl. Joh 13, 4), und spricht mit weit ausgestreckter Rechten zu Petrus. Dieser hat von einem großen hölzernen Sitz aus den linken Fuß in eine große Wasserschale gesenkt, sodass er die Wasserfläche gerade berührt. Die Hände aber streckt er zu Jesus aus. Beide schauen einander an. Es ist also offensichtlich der Moment gewählt, in dem Jesus sagt: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Joh 13, 8) und Petrus einwilligt. Zehn weitere Apostel stehen hinter Petrus summarisch gestaffelt.
 
Die rätselhafte Figur das Judas
Ganz rechts ist ein junger Mann zu sehen, der seinen linken Fuß auf ein Podest gestellt hat und die Schnüre seiner Sandalen löst (alle anderen Personen sind auf der Miniatur ohne Schuhe dargestellt). Dahinter steht die antike Figur des Sandalenlösers, die auch in anderen ottonischen und Reiche­nauer Miniaturen der Fußwaschung anklingt (vgl. MAGNIFICAT Heilige Woche 2015). Da es aber ohne diesen nur e1f Apostel wären und Judas bei der Fußwaschung noch anwesend war (vgl. Joh 13, 2.11), ist hiermit wahrscheinlich Judas gemeint. Aus der Aussage Jesu „wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Joh 13, 8) folgerte schon die antike Theologie (Origenes), dass Judas nicht die Füße gewaschen bekommen konnte. Aus diesem Grund ist Judas hier wahrscheinlich in dieser rätselhaften Weise als Sandalenlöser dargestellt. Noch isolierter als in der oberen Szene, Jesus die kalte Schulter zeigend und sich fast hinter der Säule versteckend, ist er nicht Teil der Gemeinschaft, hat er keinen Anteil am Herrn und schaut doch sehnsuchtsvoll zur Mitte des Geschehens. 
 
Quelle: Magnificat – das Stundenbuch vom August 2024, Das Bild im Blick, Heinz Detlef Stäps