Ein Wunder im Alltag

Es war ein kühler, klarer Dezembertag, als ich eine liebe Bekannte mit dem Auto meiner Frau zur U-Bahn brachte. Sie war guter Dinge, doch während wir durch die Stadt fuhren, wurde es plötzlich still im Wagen. Wie aus dem Nichts fragte sie: „Glaubst du an Wunder?“

Ich zögerte einen Moment. Diese Frage war so direkt und doch so tief, dass ich mir bewusst Zeit nahm, die passenden Worte zu finden. „Ja,“ sagte ich schließlich, „ich glaube, dass Wunder jeden Tag geschehen.“

Ich erzählte ihr von meiner eigenen Erfahrung, die mein Leben verändert hatte. Im Dezember 2018 musste ich mich einer Notoperation unterziehen, einer ernsten, lebensbedrohlichen Situation. Die Ärzte taten alles Menschenmögliche, doch was ich damals spürte, ging darüber hinaus. Es war, als würde eine unsichtbare Hand mich tragen. Dieses Gefühl des Geborgenseins, dieses Vertrauen, dass es einen Sinn geben muss – das war für mich ein Wunder.

Ich erzählte ihr auch von Freunden, die mit schweren, medizinisch als unheilbar diagnostizierten Krankheiten kämpften. In diesen Momenten, wenn menschliche Möglichkeiten an ihre Grenzen stießen, hatten wir gemeinsam gebetet. Wir haben Gott gebeten, uns zu begleiten, haben losgelassen und das Schicksal in seine Hände gelegt. Und manchmal, nicht immer, geschah das Unfassbare: Die Menschen wurden gesund. Doch auch wenn keine Heilung kam, spürten wir eine andere Art von Wunder – Frieden, Kraft und eine innere Heilung, die uns trug.

„Ich glaube,“ sagte ich schließlich, „dass Wunder oft aufmerksames Zuhören, Mitleiden, Mitfreuen und gemeinsames Danken als Grundlage haben. Sie sind die Momente, in denen wir spüren, dass wir nicht allein sind.“

Sie lächelte und sah mich an. „Ich wollte es einfach wissen,“ sagte sie. Dann fügte sie hinzu: „Übrigens habe ich heute meinen ersten Rosenkranz gebetet.“ Ihre Worte erfüllten den Wagen mit einer unerwarteten Wärme. Ich hielt kurz inne, sah sie an und fragte: „Möchtest du, dass wir ein Ave Maria zusammen beten, bevor du aussteigst?“

Sie nickte, ein wenig überrascht, aber auch berührt. Gemeinsam beteten wir das „Gegrüßt seist Du Maria, voll der Gnade…“. Als ich am Ende die Gottesmutter direkt ansprach, bat ich sie, meine Bekannte zu beschützen und zu begleiten. Meine Worte waren einfach, aber von Herzen. Als wir fertig waren, sah sie mich an und sagte erstaunt: „Ich wusste nicht, dass man die Mutter Gottes einfach so ansprechen kann.“

Ich lächelte. „Doch, das kann man. Genau das ist das Wunderbare am Glauben. Wir dürfen Gott unseren Vater nennen, dürfen Maria als Mutter sehen und sie um Hilfe bitten. Es ist diese Nähe, die das Christentum so lebendig macht. Es ist, als ob wir immer eine Hand haben, die wir ergreifen können – in Freude, in Angst, in Dankbarkeit.“

Sie stieg aus, doch bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um. „Danke,“ sagte sie leise, „das war schön.“

Als ich weiterfuhr, dachte ich über die kleinen Wunder nach, die uns oft mitten im Alltag begegnen. Manchmal kommen sie ganz unscheinbar, in einem Gebet, einem Gespräch oder einem Lächeln. Doch wenn wir aufmerksam sind, können wir sie erkennen. Und vielleicht sind wir selbst, in diesen Momenten, ein kleines Wunder für jemand anderen.

Wirklich frei

Kritische Besprechung des Buches „Drauf geschissen!“ von Michael Leister

Harald Preyer, 20.11.2024

Michael Leisters Buch „Drauf geschissen!“ greift die Thematik auf, wie man sich von den Erwartungen und Meinungen anderer befreien kann, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass das Werk in großen Teilen an das Erfolgsbuch „The Life-Changing Magic of Not Giving a Fck“* von Sarah Knight erinnert – bis hin zu inhaltlichen Parallelen und strukturellen Übereinstimmungen.

Inhaltliche Parallelen zu Sarah Knight

Leister führt in seinem Buch das Konzept ein, auf unwichtige Dinge „zu scheißen“, um sich auf die wirklich wichtigen Aspekte des Lebens zu konzentrieren. Dieses Grundprinzip ist nahezu identisch mit Knights Ansatz, nur ihre Version betont stärker die bewusste Prioritätensetzung und Entscheidungsfreiheit.

Einige Beispiele aus beiden Büchern:

  • Statussymbole als Fesseln: Leister erwähnt, wie ein Mercedes Cabrio oder andere Statussymbole die Freiheit einschränken können. Sarah Knight behandelt das gleiche Thema in ihrem Buch und hebt hervor, dass solche Entscheidungen oft aus einem Gefühl der Verpflichtung anderen gegenüber getroffen werden.
  • Selbstbewusstsein und eigene Prioritäten: Beide Autoren betonen, wie wichtig es ist, sich von äußeren Erwartungen zu lösen. Knight formuliert dies als „Zero F*cks Given“-Strategie, während Leister ähnliche Formulierungen nutzt, um den gleichen Punkt zu machen.

Stilistische Ähnlichkeiten

Leister verwendet einen provokanten und humorvollen Ton, der stark an Sarah Knights Schreibstil erinnert. Auch die Kapitelstruktur und die Verwendung von konkreten Fallbeispielen zeigen eine deutliche Inspiration durch Knight. So wirken Leisters Ausführungen nicht nur wie eine Übersetzung, sondern auch wie eine weniger tiefgründige Kopie des Originals.

Fehlende Originalität

Während Sarah Knights Buch durch seine klare Struktur und tiefgründige Analysen hervorsticht, bleibt Leisters Werk eher an der Oberfläche. Oft fehlen innovative Ansätze oder neue Perspektiven, die über das hinausgehen, was Knight bereits auf den Punkt gebracht hat. Wer Knights Buch kennt, wird in Leisters Werk wenig Neues finden.

Kritikpunkte

  1. Mangelnde Eigenständigkeit: Der größte Kritikpunkt bleibt die frappierende Ähnlichkeit zu Sarah Knights Buch. Es stellt sich die Frage, ob Leisters Buch mehr als eine Wiederholung für ein deutschsprachiges Publikum ist.
  2. Wiederholungen: Viele Abschnitte wiederholen ähnliche Argumente, ohne zusätzliche Tiefe oder neue Einsichten zu bieten.
  3. Fehlender Tiefgang: Im Vergleich zu Knight bleibt Leisters Werk an vielen Stellen oberflächlich und bietet weniger fundierte Methoden, wie Leser*innen tatsächlich ihre Einstellung ändern können.

Fazit

Drauf geschissen! von Michael Leister liefert einige brauchbare Anregungen, um ein selbstbestimmteres Leben zu führen, leidet jedoch an der mangelnden Eigenständigkeit. Für Leser*innen, die Sarah Knights Buch bereits kennen, bietet Leister kaum Neues – außer einer etwas anderen Verpackung. Wer das Original noch nicht gelesen hat, könnte von Leisters Werk profitieren, sollte jedoch wissen, dass es ein eher schwächeres Derivat eines erfolgreichen Konzeptes ist.

Meine persönliche Empfehlung: Machen Sie eine Inventur über all das, wofür Sie dankbar sein können. Das macht wirklich frei von all dem, was wir vermuten, „haben“ zu müssen, um glücklich zu „sein“. Achtung: Vieles davon könnte bereits selbstverständlich geworden sein.

  • „Drauf geschissen!: Wie dir endlich egal wird, was die anderen denken“ von Michael Leister: ISBN 978-3-948187-00-2.
  • „The Life-Changing Magic of Not Giving a F*ck: How to Stop Spending Time You Don’t Have with People You Don’t Like Doing Things You Don’t Want to Do“ von Sarah Knight: ISBN 978-0-316-27072-4. 

Dankbar sein

Man kann dankbar für etwas sein und dankbar gegenüber jemandem. Dankbarkeit für etwas besteht in der Wertschätzung dessen, was uns zuteilwird. Das kann vieles sein: die Beziehung zu bestimmten Menschen, die eigene Gesundheit oder die derer, die uns am Herzen liegen, Eigentum, das uns einen Spielraum von Möglichkeiten eröffnet, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Frieden und vieles mehr. Und wir sind dankbar (oder sollten es sein) gegenüber den Menschen, denen wir etwas zu „verdanken“ haben. In vielen Religionen spielt Dankbarkeit Gott gegenüber eine bedeutsame Rolle.

Wieso aber ist Dankbarkeit die Mutter aller anderen Tugenden, wie Cicero (106–43 v. Chr.) sagt? Wer Dankbarkeit als Lebenseinstellung hat, wird vieles zu schätzen wissen, was allzu leicht für selbstverständlich gehalten wird. Ein solcher Mensch ist bereit und auch fähig, die Mühen auf sich zu nehmen, die mit der Verwirklichung von Gerechtigkeit, Tapferkeit, Enthaltsamkeit und anderen Tugenden verbunden sind.

Dankbar sein allein genügt nicht, wir müssen die Dankbarkeit auch zeigen und ausdrücken. In der Alltagsroutine wird dies zu leicht vergessen. Dabei ist es so einfach, zu sagen: »Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast.«

Quelle: Der Philosophie-Kalender 2024

Die Welt wird immer besser. Warum sind wir so hilflos?

Zusammenfassung eines Gesprächs mit Michael Lehofer 

14.11.2024 Michael Lehofer beschreibt die zunehmende Zahl an psychischen Krisen und Burnouts als ein Symptom der modernen Arbeitswelt, in der Menschen oft wie Maschinen funktionieren müssen. Obwohl die Arbeitsbedingungen objektiv betrachtet besser geworden sind, führt die implizite Unternehmensphilosophie vieler Betriebe dazu, dass Mitarbeitende als planbare Objekte betrachtet werden. Diese Reduktion auf Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit nimmt den Menschen die Möglichkeit, als Individuen mit eigenen Stärken und Schwächen wahrgenommen zu werden. Lehofer betont, dass Menschen diese Entfremdung von sich selbst und von anderen nicht ertragen können, was die Ursache für innere Krisen und das Gefühl der Überforderung ist.

Zur Lösung dieser Problematik sieht Lehofer die zwischenmenschliche Kommunikation als zentral an. Kommunikation ist der Schlüssel zu einer Kulturveränderung in Unternehmen, weil sich die meisten Verletzungen und Missverständnisse genau hier ereignen. Durch eine echte, persönliche Kommunikation können Mitarbeitende wieder spürbar füreinander werden, was ein Gefühl von Verbindlichkeit und Wärme schaffen kann, das in vielen Organisationen fehlt. Eine gelingende Kommunikation bildet damit die Basis für die Heilung von zwischenmenschlichen Wunden und für die Entstehung eines menschlicheren Arbeitsumfeldes.

Lehofer weist auch darauf hin, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung oft trügt. Während viele Menschen das Gefühl haben, die Welt werde immer schlechter, zeigen objektive Daten, dass die Bedingungen sich über die Jahrzehnte stetig verbessert haben. Die subjektive Wahrnehmung verschlechtert sich jedoch, weil Menschen immer höhere Ansprüche an sich selbst stellen und durch den ständigen Vergleich mit anderen in sozialen Medien unter Druck geraten. Anstatt auf persönliche Zufriedenheit und Freude zu achten, jagen viele einem unerreichbaren Ideal hinterher, was zu innerem Unfrieden und Erschöpfung führt.

Abschließend betont Lehofer, dass der Schlüssel zum Glücklichsein nicht in einem bestimmten Ziel oder einem erfüllten Wunsch liegt, sondern in der Fähigkeit, das Glücklichsein selbst zu leben. In den Worten von Buddha: „Es gibt keinen Weg zum Glücklichsein. Glücklichsein ist der Weg.“ Dieser Ansatz fordert dazu auf, sich selbst anzunehmen und Frieden in der Gegenwart zu finden, anstatt ständig dem „besseren Leben“ nachzujagen. Glück bedeutet somit nicht, etwas zu erreichen, sondern sich in den Alltagserfahrungen wiederzufinden und Freude an den kleinen Momenten zu haben.

Michael Lehofer ist ärztlicher Direktor des LKH Graz II und leitet die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 1.

Quelle: https://youtu.be/HSf5sNB_z8Y

Die 5 Sprachen der Liebe – Vorversion

Vielen Dank für Dein Interesse und Deine Zeit, diese Vorversion meines neuen Projekts mitzuentwickeln!

In den letzten Jahren stelle ich in vielen Gesprächen mit Freunden und auch in Coachings fest, dass es eine größer werdende Sehnsucht gibt, wirklich erfüllende Liebe in einer glücklichen Partnerschaft zu leben. Das mag mit der Entwicklung neuer Medien und einem veränderten Konsumverhalten zu tun haben. Vermutlich ist auch unsere relativ ausgeprägte Wohlstandsgesellschaft an dieser Entwicklung beteiligt.

Für einen Workshop mit Führungskräften habe ich auf Basis des bekannten Bestsellers von Garry Chapman und vieler Gespräche in den letzten sechs Monaten daraus eine Übung entwickelt, die der Selbstreflexion dient und zu unmittelbaren Umsetzungsergebnissen führt.

Stellst Du auch ein zunehmendes Bedürfnis nach erfüllten Beziehungen in Deinem Umfeld fest?

Wie gefällt Dir die Übung? Was würdest Du anders machen?

Bitte schick‘ mir Deine Gedanken dazu oder ruf‘ mich gerne an.

Vielen herzlichen Dank und alles Liebe

Harald Preyer


+43 676 723 82 67
harald@preyer.wien

 

Letztes Abendmahl und Fußwaschung

Wie sehr sich das Johannesevangelium von den Synoptikern abhebt, zeigt sich insbesondere an der Fußwaschung Joh 13, 1–20. Während diese das Letzte Abendmahl als Pessachfeier mit Einsetzung der Eucharistie als Feier des Neuen Bundes inszenieren, verortet jenes deren Ursprung im Zusammenhang der Speisung der Fünftausend in Joh 6. Dort heißt es zwar, das Pessach sei nahe gewesen (V. 4), doch die direkte Verbindung zur Passion ist dort nicht gegeben. Was dies für die Eucharistie in johanneischer Sicht bedeutet, zeigt Ludger Schenke im entsprechenden Kapitel seiner Rekonstruktion der Entstehung des Johannesevangeliums.

Gehen wir der Bedeutung nach, die bei Johannes die Fußwaschung als sakramentale Zeichenhandlung gewinnt. Sie greift erkennbar Jesu Reaktion auf den Rangstreit der Jünger auf: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9, 35) Indem der johanneische Jesus dies durch sein Handeln beim Abschiedsmahl geradezu ins Absurde steigert, deutet er seine Passion voraus und erhebt das Dienen zu seinem Vermächtnis. Gregor der Große (590–604) hat das verstanden, als er sich Diener der Diener Gottes (servus servorum Dei) nannte – die Formel, mit der Päpste bis heute offizielle Dokumente unterschreiben. Im Johannesevangelium gipfelt darin die Dynamik des Prologs, die zentral vom Abstieg Gottes des Logos geprägt ist; über die mehrfache Andeutung der paradox gemeinten Erhöhung (3, 14; 8, 28; 12, 32) und die Fußwaschung führt eine gerade Linie bis zum lapidaren „Vollbracht“ des sterbenden Logos am Kreuz (19, 30). So eindrücklich das Zeichen, so sehr geht es um die Haltung; um das Tun des Unwahrscheinlichen, Unerwarteten, das eingefahrene Gewohnheiten durchbricht und gerade so göttliches Licht hereinlässt.

Quelle: Magnificat – das Stundenbuch vom August 2024, Editorial von Johannes Bernhard Uphus.

Letztes Abendmahl und Fußwaschung, Perikopenbuch Heinrichs II., Reichenau, Anfang 11. Jahrhundert, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 4452, fol. 105v, © Bayerische Staatsbibliothek München

Gemeinschaft mit dem Herrn
Im Perikopenbuch Heinrichs II. ist der Evangelienabschnitt Joh 13, 1–15 mit dem Festtitel „IN CAENA DNI“ (beim Mahl des Herrn) überschrieben und wird mit einer großen S-Initiale eingeleitet, da der Text im Lateinischen mit „Sciens Jesus, quia venit eius hora“ beginnt (Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, Joh 13, 1). Im aufgeschlagenen Buch links von diesem Beginn des Gründonnerstagsevangeliums zeigt der Codex eine ganzseitige Miniatur mit der Darstellung des Abendmahles (oben) und der Fußwaschung (unten, unser Titelbild).
Mahl und Fußwaschung
Das Johannesevangelium unterscheidet sich von den anderen drei (synoptischen) Evangelien bei der Schilderung der Geschehnisse am Gründonnerstag unter anderem dadurch, dass das Mahl Jesu mit seinen Jüngern zwar vorausgesetzt (vgl. Joh 13, 2.4), aber nicht ausführlich geschildert wird. In der liturgischen Feier am Gründonnerstag wird deshalb vor dem Evangelium 1 Kor 11, 23–26 mit der paulinischen Überlieferung des Abendmahls gelesen. Johannes legt viel größeren Wert auf die Fußwaschung und auf die sogenannten Abschiedsreden Jesu. Die synoptischen Evangelien hingegen erwähnen die Fußwaschung mit keinem Wort.
Der Maler unserer Miniatur scheint die Abfolge der Ereignisse aber umgedreht zu haben: Eine Reinigung der Füße fand im Vorderen Orient natürlich vor dem Mahl statt, nicht danach, jedoch schildert Johannes etwas uneindeutig, dass Jesus vom Mahl aufstand, um den Jüngern die Füße zu waschen (vgl. Joh 13, 4), auch wenn das eigentliche Mahl (ohne Einsetzungsworte) auch bei Johannes danach anklingt (vgl. Joh 13, 26).
Anteil haben am Herrn
Mahl und Fußwaschung haben eine zentrale inhaltliche Verbindung: Es geht um die Anteilhabe am Herrn, um die Gemeinschaft mit ihm. Auf der einen Seite durch die Gemeinschaft mit ihm im Mahl, durch die Teilhabe an Jesu Selbsthingabe unter den Zeichen von Brot und Wein als Vorausdeutung seines Kreuzestodes als Erlösung für die Vielen (vgl. Mk 14, 24). Auf der anderen Seite durch den Dienst der Fußwaschung mit der Implikation, dass wir Gemeinschaft mit dem Herrn haben können, wenn wir anderen dienen.
Die beiden auf der Innenkarte dargestellten Szenen zeigen einige Besonderheiten:

Jesus sitzt etwas ungemütlich, auch wenn sein thronartiger Sitz mit einem Polster und einem gesäumten Tuch bedeckt ist. Hier spürt man noch eine antike Bildvorlage, welche die Mahlgemeinschaft um den Tisch liegend zeigte, mit dem Hausherrn links am Kopf der Tafel. Er hält eine Buchrolle in der Hand, schaut seine Jünger an und spricht zu ihnen: „Einer von euch wird mich ausliefern“ (Joh 13, 23). Alle Augen sind voller Spannung auf ihn gerichtet. Auf dem Tisch sehen wir Brote, zwei Kelche, eine Schale mit einem Fisch, zwei Messer, einen Krug, aber der Kelch zwischen Jesus und Judas bildet mit der Hand des Judas darüber ziemlich genau die Mitte des oberen Teiles der Miniatur. Denn die Hand des Judas ist es, die den von Jesus eingetauchten Bissen Brot nimmt und so den Verräter verrät.Oben findet das Mahl in einer Säulenhalle mit einer grünen Stoffbahn als Dekoration statt (beide Szenen sind von Goldgrund hinterfangen). Der ovale Tisch mit langem, weißem Tischtuch bildet die Mitte, um die sich die Apostel gruppieren, jedoch in sehr verschiedener Weise: Acht Apostel, an der Spitze Petrus ganz links, sitzen auf einer Bank, die rechts herausschaut, hinter dem Tisch. Ein Apostel (es ist Judas) sitzt auf einem Faldistor (Klappstuhl) vollkommen isoliert vor dem Tisch; er wirkt sehr klein und muss hoch zu Jesus hinaufschauen. Auf ihn werden wir später noch eingehen. Zwei kommen von links und bringen einen Kelch und einen Krug zum Tisch.
Jesus sitzt etwas ungemütlich, auch wenn sein thronartiger Sitz mit einem Polster und einem gesäumten Tuch bedeckt ist. Hier spürt man noch eine antike Bildvorlage, welche die Mahlgemeinschaft um den Tisch liegend zeigte, mit dem Hausherrn links am Kopf der Tafel. Er hält eine Buchrolle in der Hand, schaut seine Jünger an und spricht zu ihnen: „Einer von euch wird mich ausliefern“ (Joh 13, 23). Alle Augen sind voller Spannung auf ihn gerichtet. Auf dem Tisch sehen wir Brote, zwei Kelche, eine Schale mit einem Fisch, zwei Messer, einen Krug, aber der Kelch zwischen Jesus und Judas bildet mit der Hand des Judas darüber ziemlich genau die Mitte des oberen Teiles der Miniatur. Denn die Hand des Judas ist es, die den von Jesus eingetauchten Bissen Brot nimmt und so den Verräter verrät.

Auch die Fußwaschung findet in einem Innenraum statt, der durch zwei Säulen gekennzeichnet ist. Ein roter Vorhang (als liturgische Farbe ist für den Gründonnerstag rot damals am meisten bezeugt) ist an den Säulen hochgebunden. Jesus steht frei vor dem Goldgrund, mit dem im Text genannten umgebundenen Leinentuch (vgl. Joh 13, 4), und spricht mit weit ausgestreckter Rechten zu Petrus. Dieser hat von einem großen hölzernen Sitz aus den linken Fuß in eine große Wasserschale gesenkt, sodass er die Wasserfläche gerade berührt. Die Hände aber streckt er zu Jesus aus. Beide schauen einander an. Es ist also offensichtlich der Moment gewählt, in dem Jesus sagt: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Joh 13, 8) und Petrus einwilligt. Zehn weitere Apostel stehen hinter Petrus summarisch gestaffelt.
 
Die rätselhafte Figur das Judas
Ganz rechts ist ein junger Mann zu sehen, der seinen linken Fuß auf ein Podest gestellt hat und die Schnüre seiner Sandalen löst (alle anderen Personen sind auf der Miniatur ohne Schuhe dargestellt). Dahinter steht die antike Figur des Sandalenlösers, die auch in anderen ottonischen und Reiche­nauer Miniaturen der Fußwaschung anklingt (vgl. MAGNIFICAT Heilige Woche 2015). Da es aber ohne diesen nur e1f Apostel wären und Judas bei der Fußwaschung noch anwesend war (vgl. Joh 13, 2.11), ist hiermit wahrscheinlich Judas gemeint. Aus der Aussage Jesu „wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Joh 13, 8) folgerte schon die antike Theologie (Origenes), dass Judas nicht die Füße gewaschen bekommen konnte. Aus diesem Grund ist Judas hier wahrscheinlich in dieser rätselhaften Weise als Sandalenlöser dargestellt. Noch isolierter als in der oberen Szene, Jesus die kalte Schulter zeigend und sich fast hinter der Säule versteckend, ist er nicht Teil der Gemeinschaft, hat er keinen Anteil am Herrn und schaut doch sehnsuchtsvoll zur Mitte des Geschehens. 
 
Quelle: Magnificat – das Stundenbuch vom August 2024, Das Bild im Blick, Heinz Detlef Stäps

„Liebe, aber sei vorsichtig, was du liebst“

Liebe und Verlust: Hannah Arendt und der fundamentale Schrecken des Verlusts

Eine kleine Nachlese bei Hannah Arendt und Augustinus von Harald Preyer
Wien, am 2.6.2024

„Liebe, aber sei vorsichtig, was du liebst“, schrieb der römisch-afrikanische Philosoph Augustinus in den letzten Jahren des vierten Jahrhunderts. In gewisser Weise sind wir das, was wir lieben – wir werden es, so wie es uns wird, heraufbeschworen aus unseren unzähligen bewussten und unbewussten Sehnsüchten, Verzweiflungen und Mustern der Begierde. Dennoch ist da etwas zutiefst Paradoxes in dem Aufruf zur Vernunft in der Vorstellung, dass wir Vorsicht walten lassen können in Liebesangelegenheiten – geliebt zu haben bedeutet, das Korsett der Irrationalität zu kennen, das selbst über den willensstärksten Verstand schlüpft, wenn das Herz mit seiner köstlichen Sorglosigkeit übernimmt.

Wie man Augustinus‘ Vorsicht beherzigt, nicht durch Unterwerfung, sondern durch besseres Verständnis unserer Erfahrung der Liebe, erforscht Hannah Arendt (14. Oktober 1906 – 4. Dezember 1975) in ihrem wenig bekannten, aber in vieler Hinsicht schönsten Werk, „Liebe und Augustinus“ – Arendts erstes Buchmanuskript und das letzte, das auf Englisch veröffentlicht wurde, posthum gerettet aus ihren Papieren von der Politikwissenschaftlerin Joanna Vecchiarelli Scott und der Philosophin Judith Chelius Stark.

In den fünf Jahrzehnten, nachdem sie es 1929 als ihre Doktorarbeit geschrieben hatte – eine Zeit, in der diese Apostelin der Vernunft, die eine der schärfsten und kühlsten analytischen Köpfe des zwanzigsten Jahrhunderts werden sollte, ihre feurigen Liebesbriefe an Martin Heidegger verfasste – überarbeitete und annotierte Arendt das Manuskript obsessiv. An Augustinus‘ Schleifstein schärfte sie ihre zentralen philosophischen Ideen – hauptsächlich die problematische Diskrepanz, die sie zwischen Philosophie und Politik sah, wie sie durch den Aufstieg von Ideologien wie dem Totalitarismus belegt wurde, dessen Ursprünge sie so denkwürdig und eindringlich untersuchte. Von Augustinus übernahm sie den Ausdruck amor mundi – „Liebe zur Welt“ –, der ein prägendes Merkmal ihrer Philosophie werden sollte. Beschäftigt mit Fragen, warum wir dem Bösen erliegen und es normalisieren, identifizierte Arendt als Wurzel der Tyrannei den Akt, andere Menschen irrelevant zu machen. Immer wieder kehrte sie zu Augustinus für das Gegenmittel zurück: die Liebe.

Doch während diese alte Vorstellung von Nächstenliebe, die Martin Luther King, Jr. inspirieren sollte, zentral für Arendts philosophische Besorgnis und ihr Interesse an Augustinus war, ist ihre politische Bedeutung untrennbar von der tiefsten Quelle der Liebe: dem Persönlichen. Bei all der politischen und philosophischen Weisheit, die sie daraus zieht, wird Augustinus‘ „Bekenntnisse“ von seiner Erfahrung persönlicher Liebe belebt – jene ewige Kraft, die die Sonne und den Mond und die Sterne unserer inneren Leben regiert, reflektiert und kodifiziert in unseren kulturellen und sozialen Strukturen.

Mit einem Auge auf Augustinus‘ Vorstellung von Liebe als „eine Art Verlangen“ – das lateinische appetitus, von dem sich das Wort „Appetit“ ableitet – und seiner Behauptung, dass „lieben in der Tat nichts anderes ist als etwas um seiner selbst willen zu begehren“, betrachtet Arendt dieses richtungsweisende Verlangen, das die Liebe antreibt:

„Jedes Verlangen ist an ein bestimmtes Objekt gebunden, und es bedarf dieses Objekts, um das Verlangen selbst zu entfachen und ihm somit ein Ziel zu geben. Das Verlangen wird durch das bestimmte Gegebene bestimmt, das es sucht, so wie eine Bewegung durch das Ziel bestimmt wird, auf das sie sich zubewegt. Denn, wie Augustinus schreibt, ist Liebe ‚eine Art Bewegung, und jede Bewegung ist auf etwas gerichtet‘. Was die Bewegung des Begehrens bestimmt, ist immer zuvor gegeben. Unser Verlangen zielt auf eine Welt, die wir kennen; es entdeckt nichts Neues. Das, was wir kennen und begehren, ist ein ‚Gut‘, andernfalls würden wir es nicht um seiner selbst willen suchen. Alle Güter, die wir in unserer suchenden Liebe begehren, sind unabhängige Objekte, die in keiner Beziehung zu anderen Objekten stehen. Jedes von ihnen stellt nichts anderes dar als seine isolierte Güte. Das charakteristische Merkmal dieses Gutes, das wir begehren, ist, dass wir es nicht haben. Sobald wir das Objekt haben, endet unser Verlangen, es sei denn, wir sind von seinem Verlust bedroht. In diesem Fall verwandelt sich das Verlangen zu haben in die Angst zu verlieren. Als Suche nach dem bestimmten Gut statt nach zufälligen Dingen ist das Begehren eine Kombination aus ‚Zielen auf‘ und ‚Zurückverweisen auf‘. Es verweist zurück auf den Einzelnen, der das Gute und Böse der Welt kennt und glücklich leben will. Es ist, weil wir das Glück kennen, dass wir glücklich sein wollen, und da nichts sicherer ist als unser Wunsch, glücklich zu sein, leitet uns unsere Vorstellung von Glück bei der Bestimmung der jeweiligen Güter, die dann zu Objekten unserer Begierden werden. Verlangen oder Liebe ist die menschliche Möglichkeit, das Gut zu erlangen, das ihn glücklich machen wird, das heißt, das zu erlangen, was ihm am meisten eigen ist.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Deshalb kann eine großzügige und unbesitzergreifende Liebe – eine Liebe, die durch das Scheitern, das begehrte Gut zu erlangen, nicht vermindert wird – wie eine Leistung erscheinen, die nichts weniger als übermenschlich ist. („Wenn gleiche Zuneigung nicht sein kann, / Lass mich der liebevollere sein“, schrieb Arendts guter Freund und großer Bewunderer W.H. Auden in seiner erhabenen Ode an diesen übermenschlichen Triumph des Herzens.) Aber eine Liebe, die auf Besitz basiert, warnt Arendt, verwandelt sich unvermeidlich in Angst – die Angst, das Gewonnene zu verlieren. Zwei Jahrtausende nachdem Epiktet seine Heilung für Liebeskummer im Akzeptieren, dass alle Dinge vergänglich sind und daher auch die Liebe mit den losen Fingern der Nicht-Anhaftung gehalten werden sollte, angeboten hatte, schreibt Arendt – die Augustinus‘ Schuld an den Stoikern bemerkt:

„Solange wir zeitliche Dinge begehren, sind wir ständig dieser Bedrohung ausgesetzt, und unsere Angst zu verlieren entspricht immer unserem Wunsch zu haben. Zeitliche Güter entstehen und vergehen unabhängig vom Menschen, der durch sein Begehren an sie gebunden ist. Ständig durch Verlangen und Angst an eine Zukunft voller Ungewissheiten gebunden, berauben wir jeden gegenwärtigen Moment seiner Ruhe, seines intrinsischen Wertes, den wir nicht genießen können. Und so zerstört die Zukunft die Gegenwart.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Ein halbes Jahrhundert nach Tolstois Ermahnung, dass „zukünftige Liebe nicht existiert [denn] Liebe ist nur eine gegenwärtige Aktivität“, fügt Arendt hinzu:

„Die Gegenwart wird nicht durch die Zukunft als solche bestimmt… sondern durch bestimmte Ereignisse, die wir von der Zukunft hoffen oder fürchten, und die wir entsprechend begehren und verfolgen oder meiden und vermeiden. Glück besteht im Besitz, im Haben und Halten unseres Gutes, und noch mehr darin, sicher zu sein, es nicht zu verlieren. Traurigkeit besteht darin, unser Gut verloren zu haben und diesen Verlust zu ertragen. Doch für Augustinus wird das Glück des Habens nicht von der Traurigkeit, sondern von der Angst des Verlusts kontrastiert. Das Problem des menschlichen Glücks ist, dass es ständig von Angst heimgesucht wird. Es geht nicht um das Fehlen des Besitzes, sondern um die Sicherheit des Besitzes.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Der Tod ist natürlich der ultimative Verlust – sowohl der Liebe als auch des Lebens – und daher das ultimative Objekt unserer zukunftsorientierten Angst. Und doch ist diese Flucht vor der Gegenwart durch das Portal der Angst – vielleicht die häufigste Krankheit, der Menschen unterliegen – selbst ein lebender Tod. Arendt schreibt:

„In ihrer Angst vor dem Tod fürchten diejenigen, die leben, das Leben selbst, ein Leben, das zum Sterben verurteilt ist… Die Weise, in der das Leben sich selbst kennt und wahrnimmt, ist Sorge. So wird das Objekt der Angst zur Angst selbst. Selbst wenn wir annehmen sollten, dass es nichts zu fürchten gibt, dass der Tod kein Übel ist, bleibt die Tatsache der Angst (dass alle Lebewesen den Tod scheuen).“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Vor diesem Hintergrund des negativen Raums zeichnet Arendt die Form des ultimativen Objekts der Liebe nach Augustinus:

„Furchtlosigkeit ist, was die Liebe sucht. Liebe als Verlangen wird durch ihr Ziel bestimmt, und dieses Ziel ist Freiheit von Angst.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

In einem Gefühl, das den zentralen Mechanismus beleuchtet, durch den Frustration (vorübergehende) Zufriedenheit in der romantischen Liebe befeuert, fügt sie hinzu:

„Eine Liebe, die etwas Sicheres und Verfügbares auf der Erde sucht, ist ständig frustriert, weil alles dem Untergang geweiht ist. In dieser Frustration kehrt sich die Liebe um und ihr Objekt wird eine Negation, so dass nichts mehr begehrt wird außer Freiheit von Angst. Eine solche Furchtlosigkeit existiert nur in der völligen Ruhe, die nicht mehr durch erwartete Ereignisse der Zukunft erschüttert werden kann.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Wenn Gegenwart – das Entfernen von Erwartungen – eine Voraussetzung für eine wahre Erfahrung der Liebe ist, dann ist Zeit die elementare Infrastruktur der Liebe. Fast ein halbes Jahrhundert später, als sie die erste Frau wurde, die in der 85-jährigen Geschichte der Gifford Lectures die prestigeträchtige Vorlesungsreihe hielt, würde Arendt diese Vorstellung von Zeit als den Ort unseres denkenden Egos zum Mittelpunkt ihres bahnbrechenden Vortrags „Das Leben des Geistes“ machen. Nun, indem sie aus Augustinus‘ Schriften zitiert, betrachtet sie das Paradoxon der Liebe jenseits der Zeit für Geschöpfe, die so zeitlich sind wie wir:

„Selbst wenn die Dinge bestehen bleiben sollten, tut es das menschliche Leben nicht. Wir verlieren es täglich. Während wir leben, ziehen die Jahre durch uns hindurch und sie nagen uns zu Nichts. Es scheint, dass nur die Gegenwart real ist, denn ‚vergangene und zukünftige Dinge sind nicht‘; aber wie kann die Gegenwart (die ich nicht messen kann) real sein, da sie keinen ‚Raum‘ hat? Das Leben ist immer entweder nicht mehr oder noch nicht. Wie die Zeit kommt das Leben ‚aus dem Noch-nicht, geht durch das Ohne-Raum, und verschwindet in das Nicht-mehr‘. Kann man sagen, dass das Leben überhaupt existiert? Dennoch misst der Mensch die Zeit. Vielleicht besitzt der Mensch einen ‚Raum‘, in dem die Zeit lange genug bewahrt werden kann, um gemessen zu werden, und würde dieser ‚Raum‘, den der Mensch mit sich trägt, nicht sowohl das Leben als auch die Zeit übersteigen?“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Zeit existiert nur, insofern sie gemessen werden kann, und der Maßstab, mit dem wir sie messen, ist der Raum.

Für Augustinus, merkt sie an, ist das Gedächtnis der Raum, in dem die Zeit gemessen und gespeichert wird:

„Das Gedächtnis, das Lagerhaus der Zeit, ist die Gegenwart des ‚Nicht-mehr‘ (iam non), wie die Erwartung die Gegenwart des ‚Noch-nicht‘ (nondum) ist. Daher messe ich nicht das, was nicht mehr ist, sondern etwas in meinem Gedächtnis, das darin fixiert bleibt. Es ist nur durch die Herbeirufung der Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart des Erinnerns und Erwartens, dass die Zeit überhaupt existiert. Daher ist die einzige gültige Zeitform die Gegenwart, das Jetzt.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Eines der großen Themen, die ich in Figuring untersuche, ist diese Frage der Zeitlichkeit selbst unserer üppigsten Erfahrungen. „Die Vereinigung zweier Naturen für eine Zeit ist so groß“, schrieb Margaret Fuller – eine meiner zentralen Figuren. Sollen wir verzweifeln oder uns freuen über die Tatsache, dass selbst die größten Lieben nur „für eine Zeit“ existieren? Die Zeitskalen sind elastisch, sie dehnen und kontrahieren sich mit der Tiefe und Größe jeder Liebe, aber sie sind immer endlich – wie Bücher, wie Leben, wie das Universum selbst. Der Triumph der Liebe liegt im Mut und der Integrität, mit der wir die transzendente Vergänglichkeit bewohnen, die zwei Menschen für die Zeit bindet, in der sie gebunden sind, bevor sie mit gleichem Mut und Integrität loslassen. Fullers Ausruf beim ersten Anblick der Gemälde von Correggio, überwältigt von einer Schönheit, die sie zuvor nicht gekannt hatte, strahlt eine größere Wahrheit über das menschliche Herz aus: „Süße Seele der Liebe! Auch von dir würde ich müde werden; aber es war glorreich an jenem Tag.“

Arendt verortet diese grundlegende Tatsache des Herzens in Augustinus‘ Schriften. Ein Jahrhundert nachdem Kierkegaard behauptete, dass „der Augenblick nicht richtig ein Atom der Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit ist“, stellt sie fest:

„Das Jetzt ist das, was die Zeit rückwärts und vorwärts misst, weil das Jetzt, streng genommen, nicht die Zeit ist, sondern außerhalb der Zeit. Im Jetzt treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Für einen flüchtigen Moment sind sie gleichzeitig, so dass sie vom Gedächtnis gespeichert werden können, das sich an Vergangenes erinnert und die Erwartung von Zukünftigem hält. Für einen flüchtigen Moment (das zeitliche Jetzt) ist es, als würde die Zeit stillstehen, und es ist dieses Jetzt, das Augustinus‘ Modell der Ewigkeit wird.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Augustinus selbst erfasst diese transzendente Zeitlichkeit:

„Wer wird [das Herz] halten und fixieren, damit es einen Moment stillsteht und für einen Moment den Glanz der Ewigkeit einfängt, die für immer stillsteht, und dies mit zeitlichen Momenten vergleicht, die niemals stillstehen, und sieht, dass es unvergleichlich ist… aber dass in dieser Ewigkeit nichts vergeht, sondern das Ganze präsent ist.“ (Augustinus)

Arendt schärft den Kern des Paradoxons:

„Was den Menschen daran hindert, im zeitlosen Jetzt zu ‚leben‘, ist das Leben selbst, das niemals ’stillsteht‘. Das Gute, nach dem die Liebe verlangt, liegt jenseits aller bloßen Wünsche. Wenn es nur eine Frage des Begehrens wäre, würden alle Wünsche in Angst enden. Und da alles, was das Leben von außen als Objekt seines Begehrens konfrontiert, um des Lebens willen gesucht wird (ein Leben, das wir verlieren werden), ist das ultimative Objekt aller Wünsche das Leben selbst. Das Leben ist das Gut, das wir suchen sollen, nämlich das wahre Leben.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Sie kehrt zum Begehren zurück, das uns gleichzeitig aus dem Leben herausführt und in es hinein stürzt:

„Das Begehren vermittelt zwischen Subjekt und Objekt, und es vernichtet die Distanz zwischen ihnen, indem es das Subjekt in einen Liebenden und das Objekt in das Geliebte verwandelt. Denn der Liebende ist niemals isoliert von dem, was er liebt; er gehört dazu… Da der Mensch nicht selbstgenügsam ist und daher immer etwas außerhalb seiner selbst begehrt, kann die Frage, wer er ist, nur durch das Objekt seines Begehrens und nicht, wie die Stoiker dachten, durch die Unterdrückung des Begehrens selbst gelöst werden: ‚So ist jeder, wie seine Liebe ist‘ [schrieb Augustinus]. Streng genommen ist er, der überhaupt nicht liebt und begehrt, ein Niemand.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

[…]

„Der Mensch als solcher, sein Wesen, kann nicht definiert werden, weil er immer danach strebt, zu etwas außerhalb seiner selbst zu gehören und sich entsprechend verändert… Wenn er überhaupt eine wesentliche Natur haben könnte, wäre es der Mangel an Selbstgenügsamkeit. Daher wird er durch Liebe angetrieben, aus seiner Isolation auszubrechen… für das Glück, das die Umkehrung der Isolation ist, ist mehr erforderlich als bloßes Zugehören. Glück wird nur erreicht, wenn das Geliebte ein dauerhaftes inhärentes Element des eigenen Seins wird.“ (Hannah Arendt, Liebe und Augustinus)

Es ist erstaunlich, die Linie dieser Ideen im Leben von Arendts Denken zu verfolgen. Jahrzehnte nach ihren Doktortagen würde sie ihre einflussreiche Abhandlung darüber verfassen, wie Tyrannen Isolation als Waffe der Unterdrückung verwenden – Totalitarismus ist mit anderen Worten nicht nur die Verweigerung der Liebe, sondern ein Angriff auf das Wesen der menschlichen Wesen.

Im Rest von Liebe und Augustinus untersucht Arendt Augustinus‘ Hierarchie der Liebe, die psychologische Struktur des Verlangens, die Gefahren der Erwartung und die Bausteine jener „Liebe zur Welt“, die für ein harmonisches Leben und eine harmonische Gesellschaft so wichtig ist. Kombiniere dies mit Elizabeth Barrett Browning über Glück als moralische Verpflichtung und besuche dann erneut Arendts Überlegungen zu Handlung und Streben nach Glück, Lügen in der Politik, die Macht des Außenseiters und den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie Kunst und Wissenschaft die menschliche Bedingung erleuchten.


Quellen:

  • Hannah Arendt, Liebe und Augustinus
  • Augustinus, Bekenntnisse
  • Epiktet, Handbuch der Moral
  • W.H. Auden, If equal affection cannot be

Ostern 2024

Ich habe versucht, zu reflektieren, warum Ostern 2024 für mich eines meiner bisher schönsten Osterfeste war. Ich weiß es nicht sicher. Ich habe nur einige Vermutungen dazu:

Einen Monat vorher sind wir aus einer nicht mehr leistbaren Wohnung in Hietzing in die Eigentumswohnung meiner Kinder in Simmering übersiedelt. Wir sparen uns also viel Miete und unser Leben ist jetzt leistbar. Für die Übersiedelung haben uns zahlreiche wirklich gute Freunde mit ihren guten Wünschen, mit Sach- und Geldspenden, mit ihren Gebeten unterstützt. Wir waren nicht zu stolz, um Hilfe zu bitten und uns wurde im Übermaß geholfen. Gottes Liebe wurde spürbar und greifbar.

Die Pfarre Ober St. Veith war 15 Minuten entfernt und die Herzen der Menschen waren schwer erreichbar. Die Pfarre St. Benedikt liegt auf der anderen Straßenseite und etliche Pfarrmitglieder waren bereits bei uns zum Cafétrinken und Kennenlernen.

Nach den völlig unterschiedlichen Liturgien, die ich hier in St. Benedikt und im Stephansdom aus nächster Nähe mitfeiern durfte, war die verbindende Klammer jeden Tag die Homilie meines Freundes, P. Johannes Paul Abrahamowicz, Priestermönch in St. Göttweig. Ich bin froh und dankbar, dass ich mit so großartigen Priestern im Freundeskreis reicht beschenkt bin.

Ostern 2024 war für mich das erste Ostern, bei dem ich abwechselnd in meiner neuen Heimatpfarre St. Benedikt am Leberberg in Simmering und im Stephansdom als Ministrant dienen durfte. Natürlich bin ich in diesem Dienst hier wie dort leicht ersetzbar. Erstmals in meinem Leben sehe ich diese Ersetzbarkeit aber nicht als Bedrohung sondern als Freude. Sie zeigt, dass es viele Brüder und Schwestern gibt, die meine Haltung teilen. Mir fällt auf, dass ich mit Freude davon spreche „Ministrant“ zu sein. Bisher sagte ich immer, ich sei Lektor, Kommunionhelfer und Akolyth. „Ministrieren“ war für mich ein Dienst für Kinder…. „Lasst die Kinder zu mir kommen…“

Seit einer Woche lebt unser vier Monate alter Chow Chow Teddy mit uns. Er ist eine echte Bereicherung. Ich bin mit Hunden aufgewachsen. Ich habe aber nie einen Hund erlebt, der vom ersten Moment an, so unkompliziert, vertraut, liebevoll, herzlich und ruhig war. Yuliya und ich teilen uns erstmals die Verantwortung für ein Lebewesen. Das ist eine wunderschöne Bereicherung und Freude für uns.

In Hietzing gibt es große Flächen, die innerhalb von privaten Arealen liegen und daher nur für die Eigentümer zugänglich sind. In Simmering gibt es kleine Flächen, die einzelnen Familien gehören, dafür viel Platz für alle Menschen, die hier leben. In Hietzing hatten wir zwei U-Bahnstationen entfernt den Lainzer Tiergarten. Hier haben wir vor der Haustüre einige kleine Parks mit lieben Menschen, die wir sehr schnell besser kennen- und schätzen gelernt haben.

Wir sind gesegnet mit Menschen, die uns mögen. In Hietzing habe ich in zehn Jahren nicht mehr als fünf Nachbarn so weit kennengelernt, dass ich wusste, wie sie mit Vor- und Nachnamen heissen. Hier in St. Benedikt kenne ich nach vier Wochen von mehr als zehn Nachbarn ihre Lebensgeschichte.

 

Ich hoffe, dass die drei Homilien von P. Johannes Paul hier gut hörbar sind. Ich bin mit dem Einbetten von Audio Files in WordPress noch nicht so fit. Die Originaldateien sind jedenfalls perfekt hörbar.

 

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Grüsse aus der Steinzeit

Einer der ältesten Teile unseres Gehirns löst massiven Stress im Arbeitsalltag aus. Der Grund liegt in falschen Zielen und schlechter Führung. Der Physiker und Speaker Robert Egger erklärt die Zusammenhänge und was man ändern kann. 

1) Wir reagieren schneller, als wir denken.

Das limbische Gehirn ist ein uralter Teil unseres Gehirns, der eine enorme Bedeutung hat. Seine Aufgabe ist es zu entscheiden, wie wir spontan auf eine Situation reagieren. Auch wenn wir sehr stolz auf unser logisches Denken und unser Großhirn sind, ist es doch das limbische System, dass im Bruchteil von Sekunden vorgibt, wohin die Reise geht und wie unsere erste Reaktion ausfällt und zwar noch lange bevor wir diese überhaupt erfassen und überdenken können.

2) Wenn es Stress gibt, schalten wir das Hirn aus.

Wie wir auf eine Situation reagieren, hängt davon ab, ob das Gehirn in eine rote oder grüne Phase gerät. In der roten, also wenn das limbische Gehirn Angst hat, schüttet es Stresshormone aus. Dazu zählen Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol. Wir können dann schnell und kraftvoll handeln, also gut kämpfen oder fliehen. Der Nachteil: Das Denkhirn ist in diesem Zustand nicht besonders gut durchblutet. Das liegt daran, dass sich aufgrund der Hormone auch die Faszien, die unsere Arterien umschließen, zusammenziehen. In Folge steigt der Blutdruck. Das hat die Evolution so eingerichtet, damit man bei einem Biss eines Säbelzahntigers nicht sofort verblutet. Heute sind Säbelzahntiger und Fleischwunden selten, Stresssituationen dagegen häufig. Ein Problem im Alltag. In diesem Modus angelangt agieren wir aggressiv, unmotiviert, handeln unsozial, unethisch, eigennutzorientiert, und auch die Kommunikation funktioniert nur schlecht.

3) Wer happy ist, denkt schneller.

Das limbische System kann uns allerdings nicht nur in den Kampfmodus versetzen, es macht uns auch kooperativ und happy. Wenn es eine Situation positiv einschätzt, schüttet es Glückshormone aus. Dann ergießt sich ein Cocktail aus Serotonin, Dopamin, Endorphin und Amphetaminen in den Körper. Im Arbeitsalltag ist dieser Zustand der Jackpot. Er macht Menschen ergebnisorientiert, effektiv, erhöht das Selbstmanagement, Motivation und Loyalität und sorgt dafür, dass wir im Team kooperieren und  gut kommunizieren.

4) Das limbische System ist lernfähig.

Intellektuell überlisten oder umgehen kann man die Reaktion des limbischen Gehirns nicht, zum Glück ist es aber fähig, sich an immer wieder eintretende Situationen zu gewöhnen. Andernfalls wären komplexe Tätigkeiten wie Autofahren in der Rushhour niemals ohne akuten Stress möglich. Wenn eine Situation, die als Gefahr wahrgenommen wird, wieder und wieder ohne negative Konsequenzen erlebt wird, reagiert das limbische System also irgendwann nicht mehr mit seinem Aufgebot an Stresshormonen.

5) Limbischer Stress kann aktiv abgebaut werden.

Nun bleiben dennoch ausreichend Situationen übrig, an die man sich niemals gewöhnen kann und die nach Flucht oder Angriff schreien. Vom wütenden Kunden bis zur Steuernachzahlung gibt es ausreichend Anlass für limbischen Stress. Den kann man vor allem durch eines abbauen: Bewegung! Der Hintergrund liegt in der körpereigenen Chemie. Unsere Faszien, die den gesamten Leib durchziehen und stützen sind so konstruiert, dass sie sich unter Einfluss von Stresshormonen um sechs Prozent verkürzen. Wenn man nun zum Beispiel läuft oder Dehn- und Streckübungen macht, überdehnen sie sich wieder und können in die ursprüngliche Form zurückkehren. Der Clou ist, dass sie dabei mit den im System vorhandenen Stresshormonen reagieren, die Zug um Zug abgebaut werden. In Folge lösen sich die Verspannungen im Körper auf, die Durchblutung wird verbessert, und es gelangt wieder mehr Sauerstoff ins Gehirn, was die grüne Phase auslöst.

6) Führung und Umfeld entscheiden über Kampf oder Hingabe.

Welchen Modus das limbische Gehirn im Office besonders häufig aktiviert, ist stark von den Rahmenbedingungen abhängig. Rund 80 Prozent der Menschen reagieren mit dem grünen Happymodus, wenn sie Sicherheit in ihrer Umgebung wahrnehmen. Führungskräfte, die ihren Mitarbeitern das Gefühl vermitteln, in einem sicheren System zu agieren, sorgen also für Glückshormone. Dagegen bringt im Arbeitsalltag alles, was dem Team subjektiv Unsicherheit vermittelt, die rote Phase. Dass kann sprunghaftes Verhalten in den Vorgaben sein, Umstrukturierungen oder ein Chef, der unvorhersehbar einmal lobt und einmal kritisiert. Abgesehen von Sicherheit reagiert das limbische Gehirn auch noch stark auf die Aspekte Freiheit und Macht. Dabei geht es um ein ausgewogenes Maß an Selbstbestimmung bei der Ausführung der Tätigkeiten sowie um den Status, der einem dabei zukommt. Werden Mitarbeiter in ihren Kompetenzen beschnitten und permanent kontrolliert, ist limbischer Stress die Folge.

7) Das Management muss für klare Ergebnisse sorgen.

Damit sich Mitarbeiter sicher fühlen, muss eindeutige Ergebnisklarheit vorherrschen. Das Problem liegt darin, dass in vielen Unternehmen auf eine Geldmenge als zentrales Ergebnis hingearbeitet wird. Geld darf aber nicht das Ziel des Unternehmens sein. Wesentlich besser funktioniert etwa ein Fokus auf Kundenzufriedenheit. Wenn dieser gewährleistet wird, ist Geld das logische Abfallprodukt. Die falsche Fokussierung auf Geld lässt die Ergebnisklarheit, wofür die Mitarbeiter ihre Arbeitskraft einsetzen sollen, in den Hintergrund rücken. Damit fehlen ihnen die größeren Zusammenhänge. Und das führt zu Konfusion. Klare Führung muss für klare Ergebnisse sorgen, damit alle wissen, wofür sie verantwortlich sind. Das schafft Sicherheit und damit grüne Phasen.

8) Unsere Führungsmodelle sind veraltet.

Die meisten der aktuell verwendeten Führungsmodelle entstammen den Erfahrungen der US-Armee aus vergangenen Kriegen. Sie haben sich lange Zeit bewährt und haben erfolgreich gute Ergebnisse geliefert. Mit steigender Komplexität des Führungsalltages verlieren sie aber an Wirksamkeit. Im Sinne des limbischen Systems ist allerdings auch ein kooperativer Führungsstil keine gute Wahl. Unternehmen sind keine basisdemokratischen Gruppen. Sie sind auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtete Organisationen. Wenn dieser Zweck klar kommuniziert wird, weiß jeder, was er dazu beitragen kann. Das gibt Sicherheit und Glückshormone.

9) Weltmarktführer führen besser.

Viele Weltmarktführer fokussieren nicht auf eine maximale Rendite, sondern auf ihr Produkt. Auf eine Lösung, die viele Menschen brauchen. Wenn diese einzigartig ist, können sie einen hohen Preis verlangen und sind automatisch profitabel. Die Ergebnisorientierung hängt also nicht am Umsatz. Die Aufgabe liegt darin zu liefern, was Sinn für ihre Kunden macht. Dafür bezahlen die Kunden gerne, und der verärgerte Höhlenmensch in uns kommt erst gar nicht zum Vorschein.

Autor/in:
Mag. Stephan Strzyzowski

Treue des Vaters

Zeugnis über die Treue des Vater – das Vertrauen des Sohnes:

„Mein Vater wird uns nicht vergessen…“

Am 7. 12. 1988 verwüstete ein verheerendes Erdbeben in Armenien die Stadt Spitak und die umliegenden Dörfer und Städte.

Etwa 30 000 Menschen kamen ums Leben und 400 000 wurden obdachlos.

Aus der Stadt Leninakan wird uns eine ergreifende Begebenheit berichtet.

Sofort, nachdem die verheerenden Erdstöße abgeebbt waren, raste ein Vater mit dem Auto zur Grundschule seines Sohnes, um das Kind zu retten. Dort angekommen, musste er feststellen, dass das gesamte Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Angesichts der Menge an Schutt und Trümmer erinnerte er sich an ein Versprechen, das er einst seinem Sohn gegeben hat:

„Egal, was passiert, ich bin immer für dich da.“

Getrieben von dem Wunsch, sein Versprechen zu halten, suchte er den Bereich, in dem das Klassenzimmer seines Sohnes gewesen sein musste, und fing an, sie Steine beiseite zu räumen.

Andere Eltern trafen ebenfalls ein und weinten um ihre Kinder. „Es ist zu spät“, sagten sie dem Vater. „Die Kinder sind tot. Wir können nichts mehr für sie tun!“ Selbst ein Polizist riet ihm aufzuhören.

Aber der Vater weigerte sich.

Erst acht Stunden, dann sechzehn, zweiunddreißig und schließlich sechsunddreißig Stunden lang grub er. Seine Hände waren mit Wunden übersät, und seine Kräfte hatten längst nachgelassen, aber er hörte nicht auf. Schließlich, nach achtunddreißig zermürbenden Stunden, zog er einen Brocken beiseite und vernahm die Stimme seines Sohnes.

Armand! Armand!, rief er. Aus der Dunkelheit kam eine leise zitternde Stimme;: „Papa…!?

Andere schwache Stimmen machten sich bemerkbar, als sich die kleinen Überlebenden unter dem Schutt zu rühren begannen. Den wenigen da gebliebenen Eltern und Zuschauern stockte der Atem. Vierzehn der dreiunddreißig Schüler wurden lebend geborgen.

Als Armand schließlich herausgekommen war, versuchte er beim Graben mitzuhelfen, bis alle seine Klassenkammeraden im Freien waren. Jeder konnte es hören, wie er sich auf einmal seinen Freunden zuwandte und sagte: „Habe ich es euch nicht gesagt? Mein Vater wird uns nicht vergessen!“

Solch einen Glauben wie Armand brauchen wir, weil auch wir einen Vater im Himmel haben, der alles für uns tun wird, um uns zu retten für das ewige Leben.

Unser Himmlischer Vater vergisst uns nie!

Quelle „Ja zum Leben“ Nr. 24/2017

Credits to
Maria Christine
Säkularinstitut „Madonna della Strada“
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