Lösch mir die Augen aus

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.

Brich mir die Arme ab: ich fasse dich
wie mit dem Herzen, wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du mein Hirn in Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

Rainer Maria Rilke (1897)


Lou Andreas-Salomé
Foto Atelier Elvira, um 1897

Rainer Maria Rilke, Foto um 1900

2. Interpretation nach Sandra Richter

Dieses Gedicht gehört zu den radikalsten Liebesgedichten des jungen Rainer Maria Rilke.
Es entstand 1897 – in einer Lebensphase, in der Rilke leidenschaftlich mit der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé verbunden war.

Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter deutet dieses Gedicht in einem Beitrag des Österreichischen Rundfunks nicht primär als romantischen Text, sondern als Ausdruck einer existenziellen Abhängigkeit.
Alles Körperliche kann verloren gehen – doch das Du bleibt.
Nicht als Idee, sondern als körperlich empfundene Notwendigkeit.

Der biografische Hintergrund verschärft die Lesart:
Während eines gemeinsamen Sommers wandte sich Lou Andreas-Salomé einem russischen Intellektuellen zu, der für ihre schriftstellerische Laufbahn Bedeutung hatte. Rilke wurde räumlich getrennt und emotional marginalisiert. Aus dieser Erfahrung der Verlassenheit heraus entstand ein Gedicht, das nicht idealisiert, sondern überlebt.

Nach Richter markiert dieser Text zugleich den Übergang vom schwärmerischen Liebhaber zum werdenden Autor der Moderne.
Hier beginnt jenes Schreiben, das später nicht mehr tröstet, sondern trägt.


Quelle

Österreichischer Rundfunk, Ö1, Sendung „Gedanken für den Tag“ (Lesung & Gespräch), mit Interpretation von Sandra Richter.

Das Piano (1993) – Ein Film über Leben und Tod, Liebe und Neubeginn

Jane Campions Das Piano ist ein preisgekröntes Filmdrama, das 1994 drei Oscars gewann, darunter für das beste Originaldrehbuch. Die neuseeländische Regisseurin erzählt eine kraftvolle Geschichte über Ausdruck, Freiheit und die Wahl zwischen Leben und Tod.

Die stumme Ada McGrath kommuniziert allein über ihr Piano – es ist ihre Stimme, ihre Seele. In einer von Zwängen geprägten Welt wird Musik zu ihrer einzigen Freiheit. Die rohe Natur Neuseelands bildet dabei den Hintergrund für einen tiefen emotionalen Konflikt zwischen Unterdrückung und Befreiung. Prostitution und Liebe stehen sich in einer komplexen Beziehung gegenüber, in der Macht, Begehren und Verletzlichkeit aufeinandertreffen.

Phasenweise ist der Film schwer auszuhalten – die Charaktere waten buchstäblich und metaphorisch durch den Schlamm ihrer Schicksale. Die gezeigte Brutalität, sowohl physisch als auch emotional, macht Das Piano zu keiner leichten Unterhaltung, sondern zu einem künstlerisch hochwertigen Drama. Jeder Moment ist voller Intensität, jede Szene durchdrungen von Symbolik und tiefer Bedeutung.

Die Bilder sind von atemberaubender Kraft, der Rhythmus des Films ist langsam und eindringlich. Das Piano fordert heraus, schockiert und berührt zugleich. Am Höhepunkt der Geschichte verdichtet sich alles in einer existenziellen Entscheidung – einer Wahl zwischen Untergang und Hoffnung. Am Ende siegen Liebe und Freiheit, was dem Film eine erlösende Kraft verleiht.

Mit seiner bildgewaltigen Erzählweise ist Das Piano ein Film, der sich besonders für die Fastenzeit eignet. Er konfrontiert mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz und zeigt, dass trotz aller Dunkelheit das Leben und die Liebe triumphieren können.