Ein Rundgang durch die Albertina Klosterneuburg

Zwischen Erwin Wurm und Elena Koneff, zwischen Styx und Cremeschnitten: ein persönlicher Streifzug durch die Sammlung Essl – mit Respekt, Skepsis und Staunen.

Klosterneuburg, 11.10.2025, Harald R. Preyer

Ich stehe am Eingang der Albertina Klosterneuburg, einem dieser Orte, an denen die Gegenwart so still und selbstverständlich in Erscheinung tritt, dass man fast vergisst, wie jung sie eigentlich ist. Der Raum – großzügig, kühl, klar – empfängt uns mit einer Offenheit, die keine Schwellenangst kennt. Yuliya geht ein paar Schritte voraus, bleibt dann stehen und lächelt. Draußen stehen Pferde in ihren Koppeln und scheinen amüsiert und zufrieden zu, warten. Worauf? Dahinter gibt der wolkenverhangene Himmel für wenige Minuten den Blick auf die Kuppel von Stift Klosterneuburg frei. Das Licht ist diffus – ideal für Portraits.

Es ist unser erster Besuch hier. Und wir spüren sofort etwas Besonderes – als ob Architektur und Haltung ineinandergreifen. Vielleicht, weil dieser Ort aus einer Entscheidung heraus entstanden ist, die Mut und Verantwortung zugleich bedeutet – aus dem Willen einer Unternehmerfamilie, Kunst nicht zu besitzen, sondern weiterzugeben.


Ich kenne Martin Essl, den Sohn der Sammler Karl-Heinz und Agnes Essl. Ihm verdankt Wien im heurigen Frühjahr (2025) das große Fest „75 Jahre EU“ im Stephansdom. Heute stehe ich in jenem Raum, der sein Elternhaus der Kunst ist – nicht im privaten Sinn, sondern im übertragenen: als Ort des Vertrauens in das Menschliche.

Ich empfinde große Dankbarkeit, dass Menschen wie die Essls oder Hans Peter Haselsteiner Kunst nicht nur als Kapital betrachten, sondern als Vermächtnis. Und auch Dank gegenüber den vielen, die dieses Projekt tragen – den Museumsmanagerinnen, den Politikern, den Steuerzahlern, die es am Ende mitfinanzieren. Es ist leicht, sich über öffentliche Kulturförderung zu empören; aber wer hier durch die Räume geht, spürt, dass es sich lohnt.

Was ist überhaupt Kunst?
Wo beginnt sie? Und wo endet sie?
Diese Fragen begleiten mich seit Jahren – als Betrachter, nicht als Kritiker. Vielleicht ist Kunst überall dort, wo jemand das Sichtbare so ernst nimmt, dass es über sich hinausweist. Manchmal ist sie groß, manchmal klein, manchmal so unauffällig, dass man sie fast übersieht.

Ich bin kein unkritischer Bewunderer der Gegenwartskunst. Zu oft sehe ich darin bloß Geste und Ironie, Konzept statt Berührung. Aber wenn man sich auf die Werke wirklich einlässt, wenn man stehenbleibt und sieht, beginnt etwas zu wirken. Dann wird auch die sperrigste Form zu einer Einladung. Und plötzlich merkt man, dass diese Kunst vielleicht nicht gefallen will – sondern etwas anderes tut: Sie weckt Bewusstsein.

Die Begegnungen mit den ersten Werken

Wir gehen hinauf in den Ausstellungsbereich und betreten den ersten großen Saal. Es ist still, nur das gedämpfte Knirschen der Schritte auf dem Betonboden. Angenehm wenig Menschen sind heute hier. Zweitweise sind wir mit den Künstlern alleine. An der Wand hängen die glänzenden Karosserien von Andy Warhol – Rennwagen, abstrahiert zu Symbolen des Tempos, der Reproduktion, der Sehnsucht nach Geschwindigkeit. Ich bleibe davor stehen und denke: Das ist doch kein Bild eines Autos, sondern eines Zeitalters.
Warhols „Mercedes-Benz Formel Rennwagen W125“ ist in Wahrheit ein Memento mori aus Chrom und Farbe. Geschwindigkeit vergeht, Ruhm vergeht, aber das Bild bleibt. Vielleicht ist das sein Trost: dass auch das Flüchtige einen Ort in der Ewigkeit finden kann.


Andy Warhol, „Mercedes-Benz Formel Rennwagen W125“, 1987 rechts im Hintergrund und andere seiner bekannten Werke. Acryl und Siebdruck auf Leinwand.

Im nächsten Raum wie eine Antwort auf Warhols Kühle, hängt Robert Indianas „Classic Love“. Die vier Buchstaben sind so vertraut, dass man sie fast übersieht. Doch in dieser farbigen Wolle steckt eine Zärtlichkeit, die nichts Ironisches mehr hat. Sie ist handgemacht – eine textile Meditation über das, was bleibt, wenn alle Trends verflogen sind.
Ich bleibe lange davor stehen. Liebe als Muster, nicht als Pose. Vielleicht ist das schon der Unterschied zwischen Kitsch und Kunst: dass das eine gefallen will, während das andere still bleibt und wartet, bis man bereit ist.


Robert Indiana, „Classic Love“, 1995. Wolle.


Ein paar Schritte weiter das Werk von Ida Szigethy. Ein Blick aus einem Rolls-Royce auf eine Wand, dahinter nichts als Dunkel. „Ohne Ausweg“, steht auf dem Schild. Ich spüre, wie sich der Raum verändert: Diese Malerei ist kein Luxusobjekt, sondern eine Beichte. Das glänzende Holzlenkrad wird zum Symbol jener Freiheit, die sich selbst überfordert. Was vor dem Autoradio auf den ersten Blick so aussieht wie ein Stöckel von Yuliya’s braunen Schuhen, ist bei näherer Betrachtung der Daumen der rechten Hand der Pilotin, die gerade einen neuen Sender eingestellt hat.


Ida Szigethy, „Ohne Ausweg“, 1978/79. Öl auf Leinwand.

Ich denke an all die Fahrerinnen und Fahrer, die glauben, sie könnten das Leben steuern – bis sie begreifen, dass der Tunnel kein Irrtum, sondern Teil der Strecke ist. Szigethy malt diesen Moment ohne Pathos, aber mit der Klarheit einer Frau, die sich selbst nichts vormacht.

Taaffe, Diop, Wurm – Über das Ornament, das Absurde und das Menschliche.

Vor einem der größten Werke des Raumes bleibe ich wie gebannt stehen: ein farbig pulsierender Strudel, eine Spirale, die mich förmlich in sich hineinzieht. Es könnte auch der Blick in den Lauf eines teuren Luftdruckgewehres mit einem gezogenen Lauf sein. Philip Taaffes Unit of Direction aus dem Jahr 2003.
Rot, Blau, Gelb – Primärfarben wie Signale – kreisen in präziser Geometrie um ein winziges Zentrum, das zugleich wie ein Auge und wie ein Versprechen wirkt.

Ich lese die Tafel daneben. Taaffe, so erfahre ich, hat sich jahrelang mit Ornamentformen aus verschiedenen Kulturen beschäftigt – von römischen Mosaiken über islamische Arabesken bis zu fernöstlichen Mandalas.
Je länger ich schaue, desto mehr erkenne ich: Diese Spirale ist kein Ornament, sondern eine Bewegung des Geistes. Sie zieht mich hinein in etwas, das weder rational noch dekorativ ist – ein Sog, der mich an das Denken selbst erinnert: immer kreisend, suchend, niemals still.

Es ist faszinierend, wie Taaffe das Meditative der Form mit der Strenge der Mathematik verbindet. Sein Werk hat etwas zutiefst Spirituelles, auch wenn es das nie behauptet.
Vielleicht liegt die Kraft moderner Kunst gerade darin, dass sie sich nicht festlegt. Sie lässt Raum für Zweifel – und genau dort, im Zweifel, beginnt Erkenntnis.

Philip Taaffe, Unit of Direction, 2003. Mischtechnik auf Leinwand, Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Nach der ornamentalen Strenge von Taaffe trete ich in einen Raum, der fast körperlich vibriert.
Alexandre Diop, 1995 in Paris geboren, arbeitet mit allem, was die Welt ihm gibt: Metall, Latex, Leder, Holz, Zeitungen, Nägel, Stoffe. Seine Assemblagen sind keine Collagen im klassischen Sinn – sie sind Verdichtungen von Leben.
Ich lese seine Worte: „Ich muss von der Realität ausgehen, um eine neue zu erschaffen.“
Das ist kein Konzept, sondern eine Lebenshaltung.

Vor seinem großen Werk – eine wuchernde Komposition aus Figuren, Stoffen, Farben, Gewalt und Zärtlichkeit – spüre ich die ganze Unruhe dieser Zeit. Diop lässt nichts unberührt: Rassismus, Kolonialgeschichte, männliche Macht, Spiritualität. Alles ist ineinander verflochten. Es ist, als würde die Leinwand atmen, kämpfen, schwitzen.
Diese Kunst ist nicht schön im klassischen Sinn – aber sie ist wahrhaftig.

Alexandre Diop, „Ohne Titel“, um 2022. Assemblage aus Stoffen, Metall, Papier und Farbe. Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Ein paar Räume weiter: Erwin Wurm.
Fünf Figuren stehen da, elegant und grotesk zugleich. Köpfe gibt es keine, die Körper enden abrupt in eckigen Blöcken. Anzüge, Stiefel, Kleider – makellos.
Ich muss lächeln. Wurm nimmt die modische Oberfläche ernst genug, um sie zu sprengen. Seine Box People sind Karikaturen unserer Gesellschaft: zu perfekt, zu eckig, zu sehr auf Form und Status fixiert.

Ich frage mich, ob das Lachen über diese Figuren befreiend ist – oder beschämend. Wurm zeigt uns, wie sehr wir selbst in unseren Hüllen gefangen sind.
Und doch: Es steckt Zärtlichkeit darin. Seine Figuren sind verletzlich, obwohl sie so starr wirken. Vielleicht liegt darin die eigentliche Pointe seines Werkes – dass hinter dem Absurden das zutiefst Menschliche aufscheint.

Erwin Wurm, „Box People“, um 2015. Textil, Holz, Schuhe, gemischte Materialien. Albertina Klosterneuburg – Sammlung Essl.

Nach Wurm wird es stiller. Kälter. Ich trete in den Raum von Bruno Gironcoli – und plötzlich scheint die Luft aus Metall zu bestehen.
Vor mir liegt eine Figur, silbern, glatt, monumental: Daphne, 2002. Kein klassischer Akt, keine anmutige Verwandlung, sondern ein hybrides Wesen zwischen Mensch und Maschine, Opfer und Schöpfer.

Gironcoli sagte einmal, er wolle den Menschen in all seinen „Abgründen und Zwanghaftigkeiten“ zeigen. Und das tut er.
Diese Gestalt, halb liegend, halb aufgerichtet, mit geschlossenen Augen und einer Antenne aus dem Kopf, wirkt wie eine Kreuzung aus Mythos und Labor.
Ich kann nicht sagen, ob sie schläft oder träumt – oder ob sie längst aufgehört hat, beides zu tun.

In der makellosen Aluminiumhaut steckt etwas zutiefst Unheimliches. Der Körper scheint gefroren in seiner eigenen Idee. Und doch liegt in dieser Kälte eine seltsame Würde.
Vielleicht ist das Gironcolis Beitrag zur großen Frage, was Kunst mit uns macht: Sie zwingt uns, auszuhalten, was wir sonst verdrängen würden.

Bruno Gironcoli, Daphne, 2002. Aluminium, Albertina Klosterneuburg – Sammlung Dagmar und Manfred Chobot.

Dann ein unförmiger, fleischfarbener Körper, irgendwo zwischen Figur und Masse. Die Oberfläche scheint lebendig und zugleich wie verbrannt, durchzogen von schwarzen Adern, an manchen Stellen mit leuchtend rotem Acryl aufgerissen.
Der Titel: Eva Beresin, In Ekstase verweilen (2023).

Es ist eine Skulptur aus 3D-Druck und Acrylfarbe – eine groteske, fast komische Form, die an das Ungeformte im Menschen erinnert.
Ich lese: „Familien­sammlung Haselsteiner“ – und muss lächeln. Selbst in der Ekstase, so scheint es, bleibt in Österreich die Kunst ordentlich dokumentiert.

Doch hinter der Ironie steckt etwas sehr Ernstes. Beresins Figur ist verletzlich, erschöpft, sinnlich, vielleicht erlöst.
Sie ruht in sich – oder in dem, was von ihr geblieben ist.
Diese Arbeit, geschaffen von einer ungarisch-österreichischen Künstlerin, die seit Jahrzehnten mit Körperbildern ringt, scheint mir ein Kommentar zur Gegenwart zu sein:
Wir haben uns digitalisiert, perfektioniert, multipliziert – und doch bleibt das Fleisch, die Form, die Sehnsucht nach Berührung.

Eva Beresin, In Ekstase verweilen, 2023. Acryl auf 3D-Druck, PLA. Albertina Klosterneuburg – Familien­sammlung Haselsteiner.

Ein paar Schritte weiter begegne ich einem anderen Gegenpol zur Materialfülle:
Elena Koneff, geboren 1939 in Moskau, emigrierte 1979 nach Wien. Ihre Arbeiten sind monochrom schwarz, gewebt aus Kordeln, Gummi, Sisal und Harz. Die Serie Black Relief (1978) wirkt wie ein geheimer Dialog zwischen Textil und Kosmos.
Knoten, Schlingen, Fasern – alles scheint sich in einer stillen Gravitation zu bewegen, als würde die Materie selbst über die Schwerkraft des Lebens nachdenken.

Ich empfinde große Ruhe vor diesen Werken.
Nach all der expressiven Lautstärke der Gegenwartskunst ist Koneffs Schwarz fast eine Gebetshaltung.
Ihre Reliefs erinnern an Wunden, die zu Ornamenten geworden sind – an Verbindungen, die reißen und sich wieder schließen.
Vielleicht ist das, was mich so berührt, die Demut dieser Kunst: kein Lärm, kein Anspruch, nur ein leises Atmen im Raum.

Elena Koneff, Schwarzes Relief, 1978. Kordel, Gummi, Sisal, Farbe, Harz. Albertina Klosterneuburg.

Und dann, fast als stilles Echo auf Koneffs schwarze Reliefs, sehe ich Werke von Soli Kiani, geboren 1981 im Iran.
Schwarz, Weiß, Seile – eine Sprache der Gegensätze. Kiani arbeitet mit denselben Materialien, die im Iran bei Hinrichtungen verwendet werden. Sie verwandelt sie in etwas anderes: in Sinnbilder von Befreiung, in poetische Widerstände gegen das Verstummen.

Ihre Arbeiten sind kraftvoll, aber nicht laut. Sie erzählen von weiblicher Identität zwischen Tradition und Moderne, Religion und Säkularität, Schuld und Stolz.
Was mich besonders bewegt: In dieser Schwere liegt etwas zutiefst Versöhnliches.
Vielleicht, weil Kiani nichts zerstören will – sie will verwandeln.

In den Seilen, die sie zu Skulpturen knüpft, scheint sich die Spannung des Lebens selbst zu verdichten. Jeder Knoten ist zugleich Fessel und Verbindung.
Und als ich mich umdrehe, sehe ich Yuliya vor diesen Figuren stehen – in sanftem Rosa, die Hand auf der Tasche, still, aufmerksam.
Ein schöner Moment: zwei Frauen, die sich nicht kennen, und doch etwas Gemeinsames teilen – das stille Wissen, dass Freiheit immer eine innere Bewegung bleibt.

Soli Kiani, Installation aus der Serie „Black Line“, um 2020. Seile, Stoff, Harz. Albertina Klosterneuburg.

Hinter den Seilfiguren von Soli Kiani erkenne ich an der Wand noch einmal ein rundes, fast mandalaartiges Werk von Elena Koneff – ein schwarzes Relief aus Kordeln und Gummi, das wie ein stiller Planet im Hintergrund ruht.
Dieses Werk scheint die Szene zu umarmen: Die Bewegung der Stricke bei Kiani antwortet auf die geordnete Ruhe Koneffs.
Das Schwarz beider Arbeiten ist kein Nichts, sondern ein Speicher von Bedeutung – ein Stoff, der Licht verschluckt, um Tiefe zu erzeugen.

Elena Koneff, „schwarzer Schild“ (mein Titel), Kordel, Gummi, Sisal, Farbe, Harz. Albertina Klosterneuburg

Ausklang

Draußen, gleich zwischen den Ausstellungsräumen, stehen wir vor einer silbernen Abdeckung aus Metall. Darauf in schwarzen Lettern: STYX.
Zuerst halte ich es für eine Wasserleitung, dann für ein Kunstwerk. Doch ein Mitarbeiter erklärt uns: „Das ist die Abdeckung eines Kunstwerks – ‚Welle‘. Die Firma, die sie gefertigt hat, heißt Styx.“
Ein schöner Zufall: Der Name erinnert an den Fluss, der Leben und Tod trennt – und verbindet.
Hier oben, zwischen Glas, Beton und Rasen, fließt er nun als Kunstwerk weiter – still, metallisch, aber voller Bedeutung. Oder vielleicht ist die Welle einfach eine zärtliche Geste an eine Frau, die sich hier Blumen wünschte.

Abdeckung der „Welle“ – gebaut von Firma Styx im Atrium der Albertina Klosterneuburg.

Danach folgen wir dem Duft von Kaffee. Oben, beim Café neben den Ausstellungsräumen, stehen sie in der Vitrine: rosa und gelbe Cremeschnitten, so weich und leicht wie ein ironischer Nachsatz der Kunst.
Wir teilen keine, weil ich Yuliya noch ein spätes gutes Mittagessen zaubern werde. Aber wir lachen fröhlich, weil auch diese süsse Kreation für uns im Moment Kunst ist. Alles, was eben noch schwer war – Gewalt, Schmerz, Verwandlung – löst sich auf in Süße und Staubzucker.

Cremeschnitten im Café der Albertina Klosterneuburg.

Bevor wir gehen, halten wir noch kurz inne. Eine Wand voller Bücher mit der Aufschrift Kunst der Gegenwart – in kräftigem Rot, als wollte sie sagen: Das Heute zählt.
Wir sehen uns an, lächeln. Ja – das tut es.

Harald und Yuliya Preyer vor der Bücherwand „Kunst der Gegenwart“.

Und dann, unten nach dem Ausgang, das letzte Foto.
Das Licht ist weicher geworden, die Luft still.
Yuliya lehnt sich an mich, die Wiesen leuchten hinter uns, als hätten sie alles gehört.
Wir denken an Michaelina Wautier gestern im KHM, an Wurm, Diop, Gironcoli, Beresin, Koneff, Kiani heute hier – und an all das, was sie gemeinsam verbindet:
Mut, Genialität und Menschlichkeit.

Und wir fühlen uns bestätigt:
Die größte Gegenwartskunst bleibt die Liebe.

Harald und Yuliya Preyer vor der Albertina Klosterneuburg im warmen späten Nachmittagslicht des Herbstes.


Kurzbeschreibung

Ein persönlicher Rundgang durch die Ausstellung DE SCULPTURA in der Albertina Klosterneuburg. Harald Preyer begegnet Werken von Wurm, Gironcoli, Koneff und anderen – mit Wertschätzung, kritischer Distanz und offenem Herzen. Eine Einladung, Kunst als Spiegel des Lebens zu sehen.

El Greco und die Hl. Martina

Am 30. Jänner feiert die römisch katholische Kirche den Gedenktag der Hl. Martina. In El Grecos Gemälde „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ ist sie eine Nebendarstellerin.  

Diese frühchristliche Märtyrerin ist ein Symbol unerschütterlichen Glaubens und strahlender Sanftmut, die selbst das Wilde zähmen konnte. El Greco hat in seinem Gemälde „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ diese Aspekte in einer Weise verewigt, die Kunst und Spiritualität meisterhaft vereint. Das Bild ist in hoher Auflösung (38 MB) hier gespeichert und kann heruntergeladen und gezoomt werden, um die Details genau zu betrachten.

Maria mit Kind und die hll. Martina und Agnes (zwischen 1597 und 1599)
Gemälde von El Greco (* um 1541 in Candia auf Kreta; † 7. April 1614 in Toledo); eigentlich Domínikos Theotokópoulos
National Gallery of Art, Washington, D.C.

Martina und die gezähmte Wildheit des Glaubens

Die Legende von Martina erzählt, wie sie während der Christenverfolgung unter Kaiser Alexander Severus in eine Arena geworfen wurde, um von wilden Tieren zerfleischt zu werden. Doch die Löwen, die eigentlich ihren Tod besiegeln sollten, legten sich sanft zu ihren Füßen. Die Märtyrerin beeindruckte sie durch ihre furchtlose Glaubensüberzeugung und die innere Ruhe, die aus ihrer tiefen Verbindung zu Gott entsprang. Diese außergewöhnliche Szene ist nicht nur ein Motiv von Stärke, sondern auch von friedlicher Überwindung des Bedrohlichen.

El Greco greift dieses Attribut auf und platziert den Löwen zu Martinas Füßen, als wäre er ein treuer Begleiter. Der Löwe blickt gelassen, fast andächtig, und lenkt den Fokus auf die spirituelle Kraft der Heiligen. Es ist weniger eine Zurschaustellung von Macht als ein Zeugnis für die transformierende Kraft des Glaubens, die selbst das Wilde in ein Symbol der Harmonie verwandeln kann.

El Grecos technische Brillanz: Der Ausdruck des Glaubens

El Grecos Gemälde überzeugt nicht nur durch seine Komposition, sondern auch durch seine subtile Technik. In der hohen Auflösung des Bildes lassen sich die Details studieren, die den besonderen Reiz seiner Kunst ausmachen. Seine lockeren, fast impressionistisch wirkenden Pinselstriche geben den Stoffen und Figuren eine Lebendigkeit, die aus der Distanz eine transzendente Wirkung entfaltet. Besonders Martinas gelber Umhang, der fast wie fließendes Gold erscheint, strahlt eine Wärme aus, die ihre innere Stärke unterstreicht.

Die Balance zwischen kühlen und warmen Farben in der Komposition spiegelt das Thema des Gemäldes wider: die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit. Martinas Löwe, mit feinen Strichen modelliert, fügt sich dabei als integraler Bestandteil der Geschichte ein. El Greco inszeniert ihn nicht als gefährliches Tier, sondern als Verkörperung der gezähmten Wildheit – ein stiller Beweis für die Kraft der Sanftmut.

Details und Symbolik in El Grecos Werk

Die ikonografische Stärke des Gemäldes zeigt sich auch in den übrigen Figuren und Details. Maria, zentral platziert, repräsentiert die Verbindung zu Christus, während Agnes mit ihrem Lamm die Reinheit und das Opfer symbolisiert. Martinas Rolle als Märtyrerin wird durch ihre gelassene Haltung und den ruhigen Blick unterstrichen. Der Löwe an ihrer Seite ist nicht nur ein Attribut, sondern auch ein Hinweis darauf, wie Glaube und Liebe das Potenzial haben, Angst und Gewalt zu überwinden.

Die Engel im oberen Teil des Bildes verstärken diese Botschaft. Ihre sanften Gesten und aufrichtigen Blicke schaffen eine Atmosphäre des Friedens, die den Betrachter dazu einlädt, über die transformative Kraft des Glaubens nachzudenken.

El Greco: Ein Meister zwischen den Welten

El Greco (1541–1614) war ein Künstler, der über die Grenzen seiner Zeit hinaus wirkte. Seine Werke vereinen Einflüsse der venezianischen Schule mit der expressiven Kraft des Manierismus und der spirituellen Tiefe byzantinischer Ikonografie. In „Die Jungfrau Maria mit den hll. Agnes und Martina“ zeigt er seine Fähigkeit, das Göttliche und das Menschliche in einer harmonischen Komposition zu verbinden.

Dieses Gemälde ist mehr als eine Darstellung von Heiligen. Es ist eine Reflexion über die Macht des Glaubens und die Möglichkeit, durch innere Überzeugung und Sanftmut sogar das Wilde zu zähmen. Martina erinnert uns daran, dass wahre Stärke nicht in Gewalt liegt, sondern in der Fähigkeit, Liebe und Frieden auszustrahlen.

Hermann’s Vernissage

22.11.2024 Heute habe ich Yuliya und Harry zu einer Vernissage mitgenommen. Hermanns Hund hat uns eingeladen. Der ist schon erwachsen so wie ich bald und er wohnt im Wald in einem tollen Haus und sein Herrchen macht was ganz Tolles. Habe ich vorher noch nie gesehen. Der macht Bilder aus Gold! Die haben dann auch ohne Licht geleuchtet. Ganz gespenstisch war das.

Da hat dann ein ganz lieber Mann gesprochen. Zu dem haben alle Pater gesagt, aber der hat gar nicht so ein langes Kleid an wie die anderen Mönche, die ich kennengelernt habe. Jedenfalls hat er ganz toll gesprochen. Ich habe nicht gleich alles verstanden. Aber dann habe ich den Kopf schief gelegt. Er hat dann zu mir gesagt: „Teddy Dir geht es gut. Du wirst mit ganz viel Liebe erzogen. Alles Gute!“ Habe ich lieb gefunden. Werde ich meinem Freund, dem Künstler Hund erzählen.

Und ich wünsche dann seinem Herrchen, dass viele rote Punkte auf die Goldbilder geklebt werden. Da habe ich zugeschaut. Das macht sie einfach farbenfroh, finde ich. Und ich habe auch gemerkt, dass der Mann, der auch auf der Bühne gestanden ist und der dann das Buffet eröffnet hat, dass der sich auch immer gefreut hat, wenn er einen roten Punkt drauf geklebt hat. Der hat also auch meinen Geschmack.

https://www.hermannstaudinger.at/de

Ist ChatGPT der „bessere“ Künstler? 

Kann KI Kunst schaffen? Gespräche mit Künstlern, Galeristen, Betrachtern anlässlich der ART VIENNA in der Schönbrunner Orangerie und ein Besuch bei Hermann Staudinger auf der Rieglerhütte.

Wien, 17.9.2023, Harald Preyer

„Die Frage könnte verstören und von den Ausstellern als Provokation verstanden werden“, warnen mich Kollegen im Vorfeld meines Besuches der Art Vienna. „Genau das will ich ja“ denke ich mir: Eine Pro-Vocation – ein „Für-Etwas-Rufen“. Es könnten Streitgespräche werden, oder auch Versuche einer Annäherung. Dabei habe ich mir den Titel nur geliehen. Das war der Arbeitstitel einer Abgeordneten zum Nationalrat für ein Gespräch mit Freunden im Palais Epstein in der letzten Woche. Dort meinte denn auch sinngemäß der nach 23 Jahren abtretende Rektor der Angewandten Gerald Bast: „Im Idealfall kann Künstliche Intelligenz Künstlern den Rücken freihalten und einfache Routineaufgaben für sie erledigen, damit sie Zeit für das Wesentliche, für Fantasie und Inspiration haben.“

Vor einem Bild im vorletzten Raum in der tropisch warmen Orangerie steht verzückt eine junge Frau als würde sie gerade in einen Ozean aus Kobaltblau mit orangem Farbklecks eintauchen.

Gottfried Mairwöger, Réunion, 1998,
Öl auf Leinen, 150 x 130 cm

„Was macht das Bild mit Ihnen?“ frage ich sie leise, weil ich sie nicht aus ihrer Trance wecken wollte. „Oh. Es liebt mich. Ich liebe es. Ich bin grad weit weg und nah dran. Spüren Sie es auch? Das ist der Fluchtpunkt der Sehnsucht, der Hoffnungsstrahl aus dem Jenseits, das Ziel meiner Träume. Meine Sehnsucht hat ein Zuhause.“ Da ist ein Funke übergesprungen, wie ein Künstler später an diesem Nachmittag sagen wird.

„Es muss doch nicht alles immer perfekt sein. Menschen machen halt auch Fehler. Das macht sie ja gerade menschlich. Und das ist der Unterschied zwischen Mensch und Maschine“, meint eine Kunsthändlerin, der ich die Titelfrage stelle. „Künstliche Intelligenz ist ja schon uralt. Sie gibt es im Web seit wir die Möglichkeit haben, auf das Wissen der Welt von unserem Computer zuzugreifen. Das ermöglicht uns vergleichende Betrachtung von Gedanken, Konzepten und Kunstwerken zu einem Stichwort. Wir können aus viel Ähnlichem unser Eigenes schaffen und damit andere konfrontieren. Das ist Kunst“, erklärt mir eine Universitätsdozentin, die auch mit Kunst handelt.

„Der Betrachter kann unsere Installation betreten, Teil des Raumes werden. Wir schaffen mit unterschiedlichen Programmen neue Wirklichkeiten, die wir zu einer kompletten Webseite zusammenfügen. Die ganze Seite verkaufen wir dann an den Sammler. Er kann die URL in seiner Kommunikation nutzen und damit seinen Freunden und Kunden den Schlüssel zu neuen Räumen öffnen“ schwärmt ein Kunsthändler aus Oberösterreich, der in Wien eine Galerie betreibt. Ich betrete auf meinem Handy einen dieser Kunsträume und lausche der beschwörenden Göttin aus einer anderen Welt mit ihrem „Appell an die Menschlichkeit“. Ihr Gesicht erinnert mich an einen Fantasy-Film. Ihre Gedanken haben eine Ordnung und Klarheit, die mich beeindrucken. „Alles mit Künstlicher Intelligenz zusammengefunden“ meint der Schöpfer der Seite stolz.

Nach etwas mehr als zwei Stunden und intensiven Interviews mit unterschiedlichsten Menschen freue ich mich an diesem strahlenden warmen September Nachmittag auf den kühlen Wald. Wir wollen noch Hermann Staudinger, einen lieben Freund und seit mehr als 30 Jahren Künstler, in seinem Haus nahe der Rieglerhütte besuchen. Er hat selbst am Freitag ein Bild zur Eröffnung der Messe ausgestellt. Im angenehm entspannten fokussierten Gespräch erzählt er mir zwei Geschichten, die sein Leben beeinflusst haben.

 

Hermann Staudinger, Im Auer-Welsbach-Park in Wien, Baum-Bild in Gold

Bei einer Ausstellung in New York betrachtete er ein Bild mit einem schwarzen Quadrat, ein „Black Painting“ von Ad Reinhardt. „Da hat sich wieder einmal einer am Schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch versucht, dachte ich mir am Anfang. Dann habe ich genauer hingesehen. Es waren in Wirklichkeit mehrere Quadrate mit unterschiedlichen Nuancen von Schwarz. Schwarz mit einem zarten Blau, mit rot. Das Bild hatte eine Tiefe, wie ich sie noch nie gesehen habe.“ In Paris im Louvre musste ihm seine charmante Frau Elke versprechen, dass sie nicht die Mona Lisa besuchen würden. Nach einem langen Tag blieb ihnen am Ende noch eine Stunde übrig und sie waren gerade nahe bei Leonardo da Vinci. Es lag also doch nahe, noch einen kurzen Blick auf das wahrscheinlich berühmteste Bild der Welt zu werfen, an dem der Künstler ja sein ganzes Leben lange gearbeitet haben soll. „Die junge Frau hat mir direkt ins Herz geschaut. Sie hat mich berührt wie kein Bild vorher und nachher.“

Mona Lisa (La Gioconda), Leonardo da Vinci, 1503–1506, Musée du Louvre, Paris

Liegt das am zarten Lächeln mit geschlossenem Mund? Sind es die nicht ausgeführten Umrisse (sfumato)? Oder hat der Meister der italienischen Renaissance sein Vermächtnis in das Bild gelegt und das Rezept dazu in sein Grab mitgenommen? Bei Leonardos Tod, im Jahr 1519, befand sich das Bild jedenfalls in seinem Besitz, wurde also niemals dem Auftraggeber abgeliefert. Bei Hermann ist in beiden Fällen ein Funke übergesprungen, der ihn spüren ließ, was er nie vorher empfunden hat. Ist es das? Ist dieser Funke das, was Kunst von Handwerk unterscheidet?

„Kann man diesen Funken vermessen, mathematisch beschreiben?“ wollte der sympathische Linzer Architekt wissen, der seit Beginn unseres Gespräches Zigarre rauchend an der Ecke des Tisches saß und nichts sagte, nur interessiert zuhörte. „Wenn man es nämlich nicht als Algorithmus beschreiben kann, dann wird Künstliche Intelligenz es nicht erschaffen können“, zitierte er stolz seinen Nachzügler, der an der Universität Informatik studiert.