Zwischen Himmel und Erde

Zehn Mächtige, ein leerer Stuhl – und die Frage, ob wir alle die Welt nicht in einer Stunde verändern könnten.

Von Richard Reyer


Zehn Menschen auf einer Bühne. Zehn Gesichter einer Welt, die täglich an ihren eigenen Widersprüchen nagt. Und ein elfter Platz – leer.

Der Stuhl ist für uns alle reserviert: „Die Menschheit“ steht darauf. Und wir ahnen sofort, dass es nicht die großen Namen auf dem Podium sind, die die entscheidende Antwort geben werden.

Doch von Anfang an.

Die Zehn – Macht, Moral, Analyse

Papst Franziskus sitzt zwischen dem Dalai Lama und Ahmad al-Tayyeb. Drei Männer, die Millionen Menschen Orientierung geben, wenn es um das Unsichtbare, das Höhere geht. Ihre Sprache ist geprägt von Demut, ihre Botschaften alt wie die Menschheit selbst – und doch drängend aktuell: Barmherzigkeit, Mitgefühl, Würde.

Neben ihnen die Architekten der Gegenwartsmächte: Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping und Ursula von der Leyen. Jeder verkörpert ein System, ein Modell, eine Logik. Trump wirkt, als suche er nach der besten Kamera. Putin spricht selten, doch wenn, dann schnürt er seine Worte zu Präzisionswerkzeugen. Xi Jinping, diszipliniert, ruhig, ist der Gegenpol zu Trumps Lautstärke. Von der Leyen pendelt dazwischen, zwischen Werten und Realpolitik, zwischen Brüssel und dem Rest der Welt.

Und dann die Intellektuellen: Noam Chomsky, der ewige Dissident, der die blinden Flecken des Westens seziert. Yuval Noah Harari, der uns die Zukunft so trocken vorlegt, als sei sie ein Protokoll der Geschichte. Und Chimamanda Ngozi Adichie, deren kluge Stimme von denen erzählt, die in der globalen Arena oft vergessen werden.

Blick von außen

Wir stellen eine einfache, verstörende Frage:
„Angenommen, Sie müssten sich  zehn Außerirdischen vorstellen, die uns heute von einem fernen Stern aus besuchen – was würden Sie sagen, wer Sie sind?“

Und plötzlich liegt der fremde Blick im Raum. Franziskus spricht von Barmherzigkeit, der Dalai Lama von Mitgefühl, Ahmad al-Tayyeb von der moralischen Verantwortung. Trump, ganz Alpha, verkauft sich selbst als Gewinner. Putin spricht von Stärke, Xi von Ordnung, von der Leyen von Verantwortung.

Chomsky stellt nüchtern klar: „Ich bin ein Zeuge der Manipulation.“ Harari sagt: „Ich erzähle von der Menschheit und ihrer Zerbrechlichkeit.“ Adichie antwortet schlicht: „Ich spreche für die, die übersehen werden.“

Es entsteht etwas, das auf den ersten Blick nach Einigkeit riecht – und doch wird in der Schwebe zwischen den Sätzen klar: Die Einheit ist brüchig.

Einig im Unbehagen

„Was eint Sie?“ – die Frage wirkt fast banal angesichts der Gravitation im Raum.
Papst Franziskus spricht von der Verantwortung für die Welt. Der Dalai Lama nickt, Ahmad al-Tayyeb spricht von der gemeinsamen Angst vor dem Verfall der Moral. Auch Putin, Trump und Xi gestehen, dass Stabilität ihr Ziel sei – nur der Weg dorthin ist fundamental unterschiedlich.

Von der Leyen nennt es „globale Verantwortung“, Chomsky hingegen spricht vom „Widerstand gegen die Lüge“, Harari von der „Notwendigkeit der Selbsterkenntnis“ und Adichie von der „Pflicht, die Stimmen der Unsichtbaren hörbar zu machen“.

Alle blicken auf dieselbe Welt – und doch ist ihr Bild von ihr so verschieden, dass man glaubt, sie kämen von unterschiedlichen Planeten.

Die drei Wünsche

„Was würden Sie sich vom Universum wünschen, wenn Ihnen drei Wünsche garantiert erfüllt würden?“
Die Antworten sind so erwartbar wie entlarvend.

Der Papst will Frieden, Gerechtigkeit und Liebe zur Schöpfung. Der Dalai Lama wünscht sich Mitgefühl. Ahmad al-Tayyeb bittet um die Versöhnung von Glaube und Vernunft. Trump will „gewinnen“. Putin will „Stärke“. Xi „Harmonie“. Von der Leyen wünscht sich „Klimaschutz und ein glaubwürdiges Europa“. Chomsky verlangt das Ende der globalen Ungleichheit. Harari fürchtet die Fiktionen der Menschheit. Adichie will, dass niemand mehr übersehen wird.

Das Paradox der großen Bühne

Und doch schleicht sich eine stille Erkenntnis ein:
Es ist die Leere zwischen den Wünschen, die das Dilemma spiegelt. Denn keiner dieser zehn Menschen – trotz aller Macht, trotz aller Einsichten – kann allein verhindern, dass die Welt weiter taumelt.

Die Rettung beginnt nicht im Sitzungssaal der Mächtigen, nicht in den Gängen der Macht oder den heiligen Hallen des Glaubens. Sie beginnt im Kleinen.

Die Welt in einer Stunde

Was, wenn jeder Mensch heute eine Stunde nutzte, um die eigene kleine Welt zu einem besseren Ort zu machen? Wenn wir streiten und uns versöhnen würden, wenn wir teilen statt mehren, zuhören statt urteilen – was, wenn diese leise Revolution genau jetzt beginnen könnte?

Eine Stunde.
Kein großes Gremium. Keine Deklaration. Keine Friedenskonferenz. Nur die einfache Entscheidung, das Heute heller zu machen.

Dann – so scheint es plötzlich – würde die Welt nicht über Nacht, sondern in genau einer Stunde eine andere sein. Vielleicht nicht perfekt, aber spürbar besser.

Der leere Stuhl

Als der Moderator die letzte Frage stellt, wird es still:
„Was, wenn die Geschichte nur Ihre Taten kennt – und nicht Ihre Namen?“

Keiner antwortet. Die Zehn blicken auf den leeren Stuhl in der Mitte. Den Stuhl, der für uns alle steht.

Und während draußen vor dem Fenster eine graue Stadt leise unter der Schwere der Zeit weiteratmet, wissen wir: Die Stunde beginnt jetzt.

Richard Reyer ist passionierter Lebenskünstler, aufmerksam zuhörender Beobachter und selbstkritischer Denker. Er liebt es, historische und lebende Persönlichkeiten in fiktive Gespräche zu verwickeln – und lächelt dabei über die Welt, um nicht an ihr zu verzweifeln. Denn das, worüber wir nicht mehr lächeln können, hat aufgehört, uns heilig zu sein.

GAUDETE – Freut Euch!

Wie aus der biblischen Aufforderung, die dem dritten Adventsonntag ihren Namen gibt, eine reale Haltung werden könnte.

Auf Basis der Botschaft von „Gaudete“, also des Aufrufs zur Freude und zur hoffnungsvollen Ausrichtung auf das Wesentliche, lässt sich für Österreich ein Idealszenario entwerfen, in dem die Gesellschaft zu mehr menschlicher Wärme, verantwortungsvoller Freiheit und solidarischem Miteinander findet. 

Das wäre mein Idealszenario für Österreich.

  1. Freude an der Gemeinschaft
    Die Menschen in Österreich erkennen den Wert des Zusammenhalts neu. Sie lernen, einander mit Respekt, Achtsamkeit und Wohlwollen zu begegnen. Das beginnt bei der Nachbarschaft und weitet sich aus auf das gesamte Land. Gegenseitiges Vertrauen, generationenübergreifende Unterstützung und ein ehrliches Interesse am Wohl des Nächsten bestimmen das soziale Klima. Wie es im Philipperbrief heißt: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4 Einheitsübersetzung 2016). Diese Haltung der Freude steht am Anfang jeder Veränderung.
  2. Gemeinwohl statt Polarisierung
    Anstatt sich in ideologischen Grabenkämpfen zu verlieren, konzentriert sich Österreich auf das Gemeinwohl. Politik und Wirtschaft arbeiten für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Leistung und sozialer Absicherung. Entscheidungen werden transparent, nachvollziehbar und partizipativ getroffen. Die Freude am gemeinsamen Gestalten überwiegt die Lust am Rechthaben. So entsteht ein Klima, in dem alle Stimmen gehört werden – auch die stillen.
  3. Spirituelle Tiefe und kulturelle Vielfalt
    Die Bewohner*innen Österreichs entdecken neu, dass die spirituelle Dimension des Lebens nicht altmodisch, sondern zutiefst menschlich ist. Ob aus christlicher Tradition, anderen Religionen oder aus einer offenen Sinnsuche heraus – es entsteht ein Raum, in dem Glaube, Hoffnung und Liebe nicht als verstaubte Begriffe, sondern als kraftvolle Ressourcen für das gesellschaftliche Leben verstanden werden. Die heimische Kultur, geprägt von langer Geschichte, Musik, Literatur und Kunst, wird dabei als Geschenk betrachtet, das mit Freude gepflegt, aber auch offen für neue Einflüsse ist. So entsteht ein kreativer Dialog zwischen Alt und Neu, Tradition und Innovation.
  4. Umweltverantwortung mit Zuversicht
    Inspiriert von der christlichen Grundhaltung der Schöpfungsverantwortung (vgl. Gen 1,26-31), entwickelt Österreich nachhaltige Konzepte im Umgang mit Natur und Ressourcen. Es geht um mehr als Pflichterfüllung: Es ist die Freude, die eigene Heimat für zukünftige Generationen zu bewahren, die Berge, Seen, Wälder und Städte in ihrer Schönheit zu erhalten. Die Bürger*innen verstehen Umweltschutz nicht als Last, sondern als gemeinsames Abenteuer, bei dem Technik, Kreativität und Herzblut Hand in Hand gehen.
  5. Bildung für Sinn und Verantwortungsbewusstsein
    Das Bildungssystem fördert nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern legt Wert auf Charakterbildung, Reflexion, ethisches Denken und Empathie. Österreichische Schulen, Lehrwerkstätten, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen setzen auf Begegnungen, Projekte und Dialog. Die Freude am Lernen wird neu entdeckt, weil Wissen nicht nur Selbstzweck ist, sondern Wege öffnet, mit anderen besser zusammenzuleben.

Wien, Stadtpark, Luftaufnahme
Copyright: Österreich Werbung, Fotograf: Christian Kremser

Gesamtbild
In diesem Idealszenario spürt man, dass Österreich zu einem Ort wird, an dem die Freude – „Gaudete“ – eine innere Haltung ist, die Menschen verbindet. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung und Religion tragen zu einem hoffnungsvollen Miteinander bei. Herausforderungen werden nicht ignoriert, aber in einem Klima des Vertrauens und der Zuversicht angegangen. Die Botschaft „Freut euch!“ bedeutet hier keine Verdrängung von Problemen, sondern die Ermutigung, mit Offenheit, Güte und Tatkraft eine gerechtere und lebenswerte Zukunft zu gestalten.

Dieses Bild mag idealistisch sein, aber gerade die christliche Botschaft der Freude unterstreicht, dass das scheinbar Unmögliche lebbar werden kann, wenn wir uns aus innerer Überzeugung darum bemühen. Wesentlich ist dabei die dankbare Besinnung auf das, was unseren Vorfahren und uns bereits gelungen ist, geschenkt wurde und da ist, um gesehen, geschätzt und geliebt zu werden. Vieles davon ist nur von der scheinbar konservierenden Verpackung der Selbstverständlichkeit verdeckt.

Harald Preyer ist systemischer Coach und geistlicher Begleiter in Wien.