Luca entdeckt die Hoffnung

Harald Preyer, Weihnachten 2024

Stell Dir eine ganz schlichte Szene vor: An einem kühlen Dezembermorgen, noch vor Sonnenaufgang, schlüpft ein Junge namens Luca leise aus seinem Zimmer. Er lebt in einer großen Stadt im Süden Italiens. In der Nähe der Wohnung steht eine alte Kirche. In dieser Kirche hängt ein ungewöhnliches Mosaik – eine Darstellung der Geburt Jesu, in leuchtenden Gold- und Blautönen, so alt, dass niemand mehr genau weiß, wann es entstand.

Luca schleicht durch die leere Kirche, in der nur eine Kerze in der Nähe des Altars flackert. Er kennt diesen Ort gut – hier hat seine Nonna ihm vor ein paar Jahren erklärt, wer das Kind in der Krippe ist. „Es ist ein Kind, ganz verletzlich“, hatte sie gesagt, „ein Kind, das die Menschen daran erinnert, wie wichtig Liebe, Mitgefühl und Dankbarkeit sind.“ Damals war Luca zu jung, um viel darüber nachzudenken.

Heute ist er größer. Er stellt sich vor das Mosaik. Da sitzt Maria im dunkelblau goldenen Gewand in einer dunklen Höhle, das Kind ganz eingewickelt in Binden in seinem heiligen Schein ein weißes Kreuz, Josef in nachdenklicher Haltung, und darüber ein Stern. Dahinter kommen drei Engel und drei Menschen auf Pferden zum Kind. Ganz nahe der Krippe schnuppern Ochse und Esel es neugierig an. Ein großer Engel mit Stab sagt anderen die noch draußen sind, die gute Nachricht, dass ein Kind geboren wurde. Der kleine Engel darunter weist mit seiner rechten Hand auf das Kind. Zwei Männer bringen Gaben. Wo ist der Dritte? Ganz vorne wird ein Bad vorbereitet. Oder wird ein Taufbecken gefüllt? Es ist alles so still, als ob die ganze Szene darauf wartet, dass Luca  sie entdeckt.

In seiner Hand hält Luca  eine getrocknete Blume, die er im Herbst im Garten der Großmutter gefunden hat. Er weiß, dass sie längst verblüht ist, dennoch trägt er sie immer bei sich, als Erinnerung an etwas Schönes und im Vertrauen auf die Liebe seiner Nonna. Er betrachtet das Mosaik und denkt: „Wenn ein Kind in einer finsteren Höhle Licht bringen kann, dann kann ich vielleicht auch etwas Gutes tun.“

Geburt Christi
Palermo

Geburt Jesu, Mosaik, Capella Palatina, Palermo, um 1150, © akg-images / Manuel Cohen, entnommen aus Magnificat – das Stundenbuch, Dezember 2024

Er stellt sich vor, wie die Hirten sich gefreut haben und dankbar waren, als sie das Kind sahen. Kein großes Palastlicht, kein Pomp, nur ein Stall, eine Höhle, ein kleines Licht im Dunkeln. Und doch war es mehr als genug, um neue Hoffnung in ihren Herzen zu entfachen.

Als Luca schließlich die Kirche verlässt, ist es draußen noch immer dunkel. Aber in seinem Inneren spürt er ein leises Leuchten. Er beschließt, heute freundlicher zu sein, geduldiger, hilfsbereiter. Und während er langsam nach Hause geht, denkt er daran, wie dieses kleine Kind schon vor so langer Zeit den Menschen gezeigt hat, dass selbst in der größten Dunkelheit ein Funken Hoffnung aufscheinen kann.

Das ist alles. Eine einfache Szene, ein Junge vor einem alten Bild. Aber in unseren Herzen beginnt etwas zu wachsen weit über das Bild hinaus und herüber ins Heute – genau wie damals im Stall von Bethlehem.